Corona-Protestbewegung steht dem etablierten politischen System fern
Aus der Mittelschicht, eher älter und akademisch gebildet – das sind die typischen Merkmale der Angehörigen der Protestbewegung gegen die Corona-Massnahmen.
In den europäischen Gesellschaften sind über den richtigen Umgang mit der Corona-Krise politische Konflikte entstanden. Eine Minderheit der Bürger und Bürgerinnen zweifelt an der Angemessenheit der Freiheitsbeschränkungen zur Eindämmung der Pandemie.
Vor allem das verordnete Tragen von Masken und die Einhaltung von Sicherheitsabständen werden in der Bewegung der Kritiker und Kritikerinnen der Massnahmen infrage gestellt.
Im Forschungsprojekt «Politische Soziologie der Corona-Proteste» werden am Fachbereich Soziologie an der Universität Basel die aktuellen Proteste in der Schweiz und in Deutschland empirisch untersucht. Ziel ist es, die Motivation, Werte und Überzeugungen der Kritiker und Kritikerinnen im Internet und den Teilnehmenden von Kundgebungen, Aktionen und Demonstrationen zu analysieren.
Im Schnitt 47 Jahre alt, ein Drittel mit Abitur und Studium
Um diese neuen Proteste untersuchen zu können, verfolgten die Forschenden einen breiten empirischen Ansatz. Dazu gehören eine quantitative Online-Umfrage, ethnografische Beobachtungen, qualitative Interviews und Dokumentenanalysen. Die Forschenden legen nun die Grundauswertung der Online-Befragung sowie erste Ergebnisse der qualitativen Untersuchung vor.
Die Bewegung der Coronakritiker und -kritikerinnen ist intern heterogen. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass es sich mehrheitlich um gebildete Angehörige der Mittelschicht handelt. Es handelt sich um eine relativ alte und relativ akademische Bewegung.
Das Durchschnittsalter der Umfrageteilnehmenden beträgt 47 Jahre, 31 Prozent haben Abitur und 34 Prozent einen Studienabschluss. Letzteres ist höher als der schweizerische Durchschnitt von 29,6 Prozent und fast doppelt so hoch wie in Deutschland, wo 18,5 Prozent über einen Hochschulabschluss verfügen. Überraschend ist der hohe Anteil Selbständiger: Mit 25 Prozent ist er deutlich höher als in der Gesamtbevölkerung.
Vertrauen in Justiz, Polizei und Umweltgruppen
Bei der letzten Bundestagswahl in Deutschland haben 18 Prozent die Linke und 23 Prozent die Grünen gewählt. Der «Alternative für Deutschland» (AfD) haben 15 Prozent ihre Stimme gegeben, bei der nächsten Bundestagswahl wären es allerdings voraussichtlich rund 27 Prozent.
In der Schweiz ist die SVP seit Beginn die stärkste Partei unter den Kritikern der Corona-Massnahmen, sie liegt bei den Studienteilnehmenden etwa auf dem Niveau ihrer nationalen Stärke mit 29 Prozent. Bei der künftigen Wahlabsicht hat die SVP das rot-grüne Lager, das bei der letzten Wahl zusammengenommen noch auf demselben Niveau lag, jedoch weit hinter sich gelassen: 46 Prozent würden bei der nächsten Wahl der SVP ihre Stimme geben.
Charakteristisch für diese neue Bewegung ist eine starke Entfremdung vom politischen System und den etablierten Medien. Innerhalb der Institutionen der liberalen Demokratie werden der Justiz, der Polizei, den Umweltgruppen und den Bürgerinitiativen verhältnismässig viel Vertrauen geschenkt; auch Unternehmen wird weniger misstraut als den Medien, der Regierung, der EU, der UNO, den Banken, den Parteien und dem Parlament.
Antisemitische, antiautoritäre und anthroposophische Züge
Es gibt zudem unter den Studienteilnehmenden eine Neigung zum Antisemitismus. Dies ist insofern nicht überraschend, da in der Protestbewegung eine Anlage zum verschwörungstheoretischen Denken existiert – und dieses häufig antisemitische Züge aufweist.
Insgesamt sind die Teilnehmenden jedoch weder ausgesprochen fremden- oder islamfeindlich, teilweise sogar eher antiautoritär und der Anthroposophie zugeneigt. Ein Grossteil will die Alternativmedizin der Schulmedizin gleichstellen, zurück zur Natur und stärker auf ganzheitliches und spirituelles Denken setzen. 64 Prozent sagen, man solle Kindern nicht beibringen, Autoritäten zu gehorchen.
«Es handelt sich im Ganzen um keine genuin rechte Bewegung, aber um eine, die nach rechts offen ist und diesbezüglich grosse immanente Radikalisierungspotenziale aufweist – gerade wie im vorliegenden Fall einer stark emotionalen und sich selbst heroisierenden Bewegung», kommentiert der Soziologe Prof. Dr. Oliver Nachtwey von der Universität Basel die ersten Resultate.
Mit einem innovativen Ansatz wurde der Online-Survey in offene Telegram-Chat-Gruppen in der Schweiz und in Deutschland gepostet. Durch dieses Verfahren erzielte die Forschungsgruppe mehr als 1150 ausgefüllte Fragebögen. Bei der vorliegenden Auswertung handelt es sich allerdings um explorative, nicht repräsentative Ergebnisse.