Brienz GR rutscht ein Jahr nach Schuttstrom so schnell wie noch nie
Ein Jahr nach dem Felssturz bedrohen rutschende Hänge das Bündner Bergdorf Brienz mehr denn je.
Bald ein Jahr ist es her, als sich Felsmassen oberhalb des Bündner Bergdorfs Brienz lösten und ein Schuttstrom das Dorf nur knapp verschonte. Heute rutschen das Dorf und der Hang dahinter so schnell wie noch nie. Aber die Brienzerinnen und Brienzer haben ihre Hoffnung nicht aufgegeben.
Zwei Meter pro Jahr bewegt sich das Messhäuschen bei der Brienzer Kirche aktuell talwärts. So schnell wie noch nie seit Messbeginn. Dies sagte der Kommunikationsverantwortliche der zuständigen Gemeinde Albula, Christian Gartmann, auf Anfrage der Nachrichtenagentur Keystone-SDA.
Schuld ist die grosse Wassermenge in der Landmasse, auf dem das Bergdorf steht. Im letzten Spätsommer, Herbst und Winter waren die Niederschlagsmengen ungewöhnlich hoch und brachten sehr viel Wasser in die Rutschung ein. Angesichts der Jahreszeit erwarten die Behörden aber eine baldige Beruhigung.
Drei Szenarien berechnet
Vor einem Jahr, als der Bereich «Insel» abrutschte, hatten die Geschwindigkeiten zuvor exponentiell zugenommen. Dank zahlreicher Überwachungssysteme am «vermutlich bestüberwachten Hang Europas» konnten die Behörden die Bevölkerung frühzeitig warnen. Rund einen Monat vor dem Schuttstrom am 15. Juni verliessen alle 84 Brienzerinnen und Brienzer ihre Häuser mit den wichtigsten persönlichen Gegenständen.
Wie die damals zwei Millionen Kubikmeter absturzgefährdeten Felsmassen talwärts kommen, war zu dem Zeitpunkt noch ungewiss. Die Behörden berechneten drei Szenarien. Am wahrscheinlichsten und harmlosesten seien zahlreiche Felsstürze von einigen Tausend bis mehreren Hunderttausend Kubikmetern, sagten die Verantwortlichen im Frühjahr 2023.
Als halb so wahrscheinlich wurde ein Schuttstrom eingestuft. In einem solchen rutscht das Material langsam, aber andauernd ab und kann für grosse Zerstörung sorgen. Am wenigsten wahrscheinlich, aber dennoch nicht ausgeschlossen war ein weitreichender Bergsturz, der das Dorf unter sich begraben hätte.
1,2 Millionen Kubikmeter Gesteinsmassen
Schliesslich rutschten am 15. Juni kurz vor Mitternacht 1,2 Millionen Kubikmeter Gesteinsmassen als Schuttstrom ab und türmten sich bis zu zwölf Meter auf. Das Dorf verfehlten sie nur knapp. Einzig ein alter Schopf am Hang wurde mitgerissen und zerstört. Der Gemeindepräsident Daniel Albertin sprach von einem Glückstag.
Ein Jahr nach dem glücklichen Ausgang der drohenden Naturkatastrophe ist die Hoffnung der Brienzer Bevölkerung nach wie vor gross. Ein 2,3 Kilometer langer Entwässerungsstollen, der aktuell unter dem Bergdorf gebaut wird, soll den Wasserdruck baldmöglichst senken. Und dadurch die Rutschung des Dorfs und des Hangs dahinter drastisch reduzieren.
Stollen für 40 Millionen Franken
«Und er funktioniert.» Dies sagte Gartmann im Gespräch mit Keystone-SDA dazu. Messungen aus dem Sondierstollen, der als Versuchsstollen vor dem Ausbau zum Entwässerungsstollen diente, hätten die entwässernde Wirkung bestätigt.
Im Sommer 2027 soll der 40-Millionen-Franken-Stollen fertig sein. Ob er damit noch rechtzeitig das Dorf vor weiteren Naturkatastrophen bewahrt? Die Unsicherheit diesbezüglich sei bei der Bevölkerung da, so Gartmann. Albertin zeigte sich zuversichtlich, dass das Dorf auch in 100 Jahren noch bewohnt sein wird, «aber eine Garantie dafür kann niemand geben», so der Gemeindepräsident.