Mehr vom Radikalen, bitte
Es ist Zeit für eine neue Sichtweise der Radikalität, meint der Kolumnist André Gassmann und findet dazu gute Gründe.
Das Wichtigste in Kürze
- Radikalität hat zu unrecht einen schlechten Ruf.
- Der Autor wagt einen Selbstversuch in Radikalität.
- André Gassmann ist Coach und schreibt für Nau.ch über die Wahrnehmung unserer Welt.
Nein, das Thema dieser Kolumne war nicht geplant. Ein einfacher Impuls von letzter Woche führte mich dazu, im Selbstversuch meiner Radikalität auf den Grund zu gehen.
Was kommt Ihnen bei dem Wort «radikal» als erstes in den Sinn? Friede, Freude, Eierkuchen? Wohl eher nicht.
Radikale Ansichten scheinen auf den ersten Blick nicht erstrebenswert und alles andere als friedvoll. Sie grenzen aus, werten ab und finden sich oft an Rändern wieder; politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich und religiös.
Nicht gerade die beste Voraussetzung, mehr Radikalität zu fordern, oder doch?
Von Angst geleitet?
Unser negatives Bild der Radikalität ist höchstwahrscheinlich geprägt von Nachrichten und Ereignissen, die mit Schrecken und Gewalt verbunden sind.
Alles Dinge, die im Aussen sichtbar sind. Alles Dinge, die aus der Angst entstehen. Egal ob hier in der Schweiz oder sonst wo.
Auch auf nau.ch zeigt die Suche nach «radikal» ausreichend Texte und Bilder, die Angst verbreiten. Die Radikalität aus der Angst, erzeugt auch welche. Es ist wie ein Reflex, der automatisch anspringt.
Sie wollen die Probe aufs Exempel? Falls dieses Bild bei Ihnen ein Gefühl des tiefen Unbehagens oder gar Furcht hinterlassen, springt dieser Reflex an.
Es leuchtet ein, dass die häufige Kombination von Radikalität und bedrohlichen Bildern nicht gerade zu einer positiven Prägung führt.
Radikal anders
Meine Haltung zum Wort hat sich auf jeden Fall geändert, trotz solcher Bilder. «An die Wurzel gehend», abgeleitet aus dem Lateinischen «radix», die Wurzel, liegt nämlich dem Wortsinn zugrunde.
Eine Symbolik, die mir deutlich besser gefällt, als die negative Deutung und abwertende Verwendung in unserem heutigen Sprachgebrauch.
In uns allen ist das Radikale und somit das Ursprüngliche angelegt. Jedoch anders als die meisten Organismen, könnten wir Menschen uns bewusst entscheiden, welcher Art von Radikalität wir uns bedienen.
Radikal natürlich
Was passiert, wenn ich die Kraft der Radikalität in einem bereichernden Zusammenhang einsetze? Kann ich eine Woche oder ein Monat radikal vertrauen, radikal die Wahrheit sprechen und radikal auf mein Herz hören?
Ich möchte meine Radikalität nutzen, um für etwas einzustehen, statt gegen etwas anzutreten. Kann ich auf diese Art und Weise meinen Alltag radikal gestalten?
Die drei Siebe von Sokrates
Passend zum Radikalen erscheinen mir hier die drei Siebe von Sokrates. Der hat vor einem Gespräch mit einem Mann drei entscheidende Fragen gestellt. «Ist das, was du mir erzählen willst auch wahr?».
In meinem Selbstversuch siebe ich nun meine eigenen Gedanken und die Geschichten anderer.
«Ist das, was du mir erzählst auch gut?», das zweite Sieb ist jenes der Güte. Das, was mir erzählt wird (oder ich mir selbst erzähle) soll gut sein.
Und im letzten Sieb, stellte er die Frage nach der «Notwendigkeit und Wichtigkeit». Sind die Informationen für mich und meinen Tag relevant oder rauben mir diese Informationen nur Zeit?
Radikal mehr Zeit
Wenn Wissen Macht sein soll, hält die Zeit sie längst in den Händen.
In den Worten Sokrates: «Wenn das, was du mir erzählen willst, weder wahr noch gut noch notwendig oder wichtig ist, so lass es lieber sein und belaste dich und mich nicht damit.»
Es gibt also mehrere gute Gründe der eigenen Radikalität zu folgen und dabei möglicherweise Zeit zu sparen.
Ich freue mich auf den Selbstversuch, machen Sie mit?
Über den Autor: André Gassmann ist Coach für erweiterte Intuition und Wahrnehmung, Dozent, Kommunikationsexperte und Ritual- und Zeremonienleiter. Gemeinsam mit seiner Frau Karin unterstützt er als «Die Heldenflüsterer» Menschen im Erforschen und Integrieren ihrer Feinfühligkeit ins Leben. Er entdeckt täglich eine Welt, wie er sie noch nie gesehen hat.