Karl May und Tolkien: Inspiriert von der Schweiz?
Was haben Karl Mays Goldberg, Tolkiens Elbenland, Nietzsches Erleuchtungsfels gemeinsam? Sie wurden von der Schweiz inspiriert.
Das Wichtigste in Kürze
- Die Schweiz diente immer wieder als Inspiration für grosse Schriftsteller
- Für Tolkiens «Bruchtal» diente beispielsweise das Lauterbrunnental als Vorbild.
- Aber auch bei Karl May und Friedrich Nietzsche sind Schweizer «Spuren» zu finden
Die Schweiz hinterliess einen prägenden Eindruck bei Schriftstellern wie Karl May und J.R.R. Tolkien. Auf dem Papier wurden Schweizer Berge zu literarischer Fantasie.
War somit die Rigi die Quelle der Inspiration für Winnetous Goldberg und unser Silberhorn der Ursprung für das Nebelgebirge im «Herrn der Ringe»? Eine Spurensuche.
Karl May auf der Rigi
Karl May bezeichnete sich als Reiseerzähler. Obwohl er den Wilden Westen gar nicht bereist hat. Aber auf der Rigi war er. Für May-Historiker ist gesicherte Tatsache, dass er erstmals 1893 von Interlaken aus sein Auge über die Schweizer Bergwelt schweifen liess. Im selben Jahr erblickte seine Figur Winnetou das literarische Licht der Welt. Seine Apachen, wie der geneigte Leser weiss, lebten abgeschottet in den Bergen in Pueblos.
Waren die Wilden am Ende Blutsbrüder der Eidgenossen? Die Rigi hatte es dem Fliessband-Texter angetan. In «Der schwarze Mustang» von 1894 wird die «Königin der Berge» sogar Gesprächsthema. Old Shatterhand, Mays Alter Ego, erklärt schulmeisterlich, warum die Rigi nicht mit dem Pilatus verwechselt werden darf.
Gut möglich, dass Karl May ans Schweizer Bergmassiv dachte, wenn er Winnetou den sagenhaften Goldberg der Apachen besteigen liess, den Nugget-Tsil.
1901 machte er Station im Wallfahrtsort Maria Einsiedeln, anschliessend war wieder sein Lieblingszimmer im Hotel Rigi Kulm reserviert. In dieses Refugium zog er sich zurück, um sein pazifistisches Spätwerk «Und Friede auf Erden» zu beenden.
In der Ferne heulten nicht Kojoten, sondern die Alphörner. Das Wecken um Drei besorgte, fast wie bei der Kavallerie im Fort Niobrara, ein Alphornbläser des Hotels, damit nur ja keiner den majestätischen Sonnenaufgang verschlief.
Das Gästebuch, in das Karl May sich einschrieb, liegt im Tresor. Während Winnetou ja als Indianer im Verwischen von Spuren geschult war, schien sein geistiger Vater bemüht, seine Routen der Nachwelt offen darzulegen. Hatte er sich für Reiseerzählungen in Wildwest und Orient grosszügig bei der eigenen Fantasie bedient, so fussten seine Beschreibungen der Schweiz in der Realität.
J.R.R. Tolkien in Lauterbrunnen
War der edle Old Shatterhand an allen Lagerfeuern als Freund aller Apachen bekannt, so war der weise Gandalf ein Verbündeter der Elben. Auch J.R.R. Tolkien war ein Weltenschöpfer, der sich in den «Herr der Ringe»-Büchern seine eigene Geografie schuf. 1911 durchwanderte er als 19-Jähriger die Schweiz und stiess ins Lauterbrunnental vor. Literaturforscher sehen darin den Indizienbeweis: Tolkien hat das Berner Oberland zum Elfenland mystifiziert.
Von seinem Roadtrip nahm dieser englische Tourist die Ideen für Mittelerde mit: Bilbos abenteuerliche Reise von Bruchtal über das Nebelgebirge könnte genauso gut über spektakuläre Schweizer Pässe geführt haben. Der Fluss im Talboden heisst Bruinen auf Elbisch, das wäre Lautwasser in menschlicher Sprache, ein Echo des Lauterbrunnentals.
Im Nebelgebirge bleibt das Dreigestirn von Eiger, Mönch und Jungfrau erkennbar. Das Silberhorn soll ebenfalls für eine Eingebung gesorgt haben, und Interlaken war Vorlage für Esgaroth, die Stadt am See in der «Hobbit»-Erzählung.
Der junge Sprachforscher signierte das Gästebuch im Bergasthaus Obersteinberg im hintersten Lauterbrunnental, Wochen später unterzeichnete er in der Bertolhütte bei Arolla. Dazwischen lag ein Gewaltmarsch, bei dem – ähnlich wie bei Bilbos Odyssee – das Gelingen von der Marschgeschwindigkeit abhing. Noch 50 Jahre später sprach Tolkien von der eindrücklichen Schweiz-Reise.
Waren die Eidgenossen gar Inspiration für seine Hobbits?
Friedrich Nietzsche in Sils Maria
Sich hingesetzt und über die ganze Sache nachgedacht hat Friedrich Nietzsche. Eigentlich nicht auf der Suche nach Inspiration, sondern nach einem gesundheitlich günstigeren Klima. 1881 mietete er sich in Sils Maria im Oberengadin ein. In seinem Zimmer mit dem knarzenden Holzboden brachte der Philosoph bis 1888 Werke wie «Jenseits von Gut und Böse» oder «Ecce homo» zu Papier.
Nietzsche lobte das hochgelegene Sils als perla perlissim, seine Ideallandschaft. So verbunden war er seinem Denk-Ort, dass er einem Freund schrieb, «nun bin ich wieder im Ober-Engadin, zum dritten Male, und wieder fühle ich, dass hier und nirgends anderswo meine rechte Heimat und Brutstätte ist.»
Auf einer Wanderung am Silvaplanersee, bei einem pyramidenförmigen Steinblock, küsste ihn die Muse. Worauf ihm sein Spätwerk «Also sprach Zarathrustra» nur so aus der Feder floss. Besagter Erleuchtungsfelsen ist als «Zarathrustra-Stein» markiert, und das Nietzsche-Haus ist seit 1960 als Museum seinem Schaffen gewidmet. Das stille Bergdorf gilt heute als Chiffre für die Inspirationskraft, die ein Ort auf die Fantasie eines Künstlers ausüben kann.