Glynn Simmons ist nach 48 Jahren frei: «Ich will die Wut loslassen»
Der US-Amerikaner Glynn Simmons wurde im Dezember 2023 für unschuldig erklärt – nach 48 Jahren im Gefängnis. Nun spricht er ausführlich über sein neues Leben.
Das Wichtigste in Kürze
- Glynn Simmons wurde im Dezember nach 48 Jahren im Gefängnis für unschuldig erklärt.
- Mit 22 Jahren wurde er verurteilt, mit 70 Jahren kam der US-Amerikaner frei.
- Nun spricht er in einem Interview über seine Freiheit - und über den Kampf mit Krebs.
Es ist ein trauriger Rekord: Keiner sass in den USA länger unschuldig hinter Gittern und kam schliesslich frei! Glynn Simmons wurde im Dezember 2023 nach unglaublichen 48 Jahren für unschuldig erklärt. Fast ein halbes Jahrhundert sass der heute 70-jährige in einem Gefängnis im US-Bundesstaat Oklahoma ein.
Nun hat der US-Amerikaner ein erstes Mal ausführlich über sein Leben nach der Aufhebung der Haftstrafe gesprochen. Gegenüber «BBC» verrät er, dass er sich vor allem an den kleinen Dingen des Lebens erfreue. Den Dingen, die man vom Gefängnis aus nicht geniessen konnte.
Wie etwa der erste Sternenhimmel, als er mit seinem Freund in der Nacht nach seiner Entlassung Richtung Tulsa fuhr. «Oder der Wechsel der Jahreszeiten zu beobachten, das Laub. Einfache Dinge, die man im Gefängnis nicht sehen konnte. Es ist berauschend.»
1975 wurde er zum Tode verurteilt
Glynn Simmons wurde bereits im Juli 2023 aus dem Gefängnis entlassen. Aber erst im darauffolgenden Dezember für einen Mord an einer Verkäuferin im Jahr 1974 für unschuldig erklärt.
Sein Urteil wurde aufgehoben, nachdem ein Bezirksgericht feststellte, dass die Staatsanwaltschaft nicht alle Beweise an die Verteidiger übergeben hatte. Unter anderem wurde geheim gehalten, dass ein Zeuge andere Verdächtige identifiziert hatte.
"At 70 years old everything is a first."
— BBC World Service (@bbcworldservice) January 6, 2024
Glynn Simmons has just spent his first-ever Christmas with his grandchildren and great-grandchildren.
In December, a judge in Oklahoma declared him innocent of murder, after he'd already spent 48 years in prison https://t.co/yEMSSfp7ZB pic.twitter.com/r7ZB1zqmUg
Simmons war 22 Jahre alt, als er und ein Mitangeklagter 1975 zum Tode verurteilt wurden. Eine Strafe, die später auf lebenslange Haft reduziert wurde.
Mit der «BBC» sprach Simmons über seine neu gewonnene Freiheit und seinen aktuellen Kampf gegen Krebs im vierten Stadium. Und die Hoffnung, die ihn durch 48 Jahre hinter Gittern trug.
Ein Jahr vor der Freilassung kam der Krebs zurück
«Unschuldig zu sein, hilft dir, deinen Glauben zu bewahren. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich meinen Glauben nicht oft verloren habe», sagt der US-Amerikaner. Er fügt an: «Aber es ist wie ein Gummiband – man dehnt sich aus und kommt zurück.»
Es habe Tage im Gefängnis gegeben, an denen er seinen «Verstand verloren» habe. «Ich hatte Angstanfälle. Als ich älter wurde, fiel es mir manchmal schwer, an der Hoffnung festzuhalten, dass mein Name reingewaschen würde.» Denn ständig habe er Männer um ihn herum sterben sehen.
Für Glynn Simmons kamen ausserdem noch weitere schlechte Nachrichten während seiner Haft hinzu. Nur ein Jahr vor seiner Freilassung wurde bei ihm Leberkrebs diagnostiziert, es ist bereits sein zweiter Kampf gegen die Krankheit.
Er wurde auf eine Warteliste für Behandlungen gesetzt, konnte aber vor seiner Entlassung keine Chemotherapie erhalten. In dieser Zeit habe der Krebs Metastasen gebildet, sagt er im Interview und fügt an: «Mein Kampf um die Freilassung wurde intensiver als die Jahre zuvor.»
Seine Dankbarkeit wird begleitet von Bitterkeit
Seit er das Gefängnis verlassen und für unschuldig erklärt wurde, erlebte Glynn Simmons nach eigenen Aussagen «einen Wirbelsturm von Gefühlen». Dabei überwiege die Dankbarkeit, betont er. Weihnachten habe er mit seinem Sohn, den drei Enkelkindern und sieben Urenkeln verbringen dürfen. «Es war wunderschön:»
Doch seine Dankbarkeit wird auch begleitet von Gefühlen der Bitterkeit über die Jahrzehnte seines verlorenen Lebens. Simmons sagt er habe bis heute keine Entschuldigung des Bundesstaates Oklahoma erhalten. Er verliess das Gefängnis ausserdem ohne persönliche Gegenstände oder Geld für seine Grundbedürfnisse und medizinische Behandlungen.
Zu Unrecht verurteilte Personen in Oklahoma haben zwar Anspruch auf eine Entschädigung von bis zu 175'000 Dollar. Im Fall von Simmons wären das 3600 US-Dollar pro Jahr! Der 70-Jährige geht aber davon aus, dass er das Geld erst in den nächsten Jahren erhalten werde. Währenddessen kam bei einer privaten Spendenaktion für den US-Amerikaner aber eine Summe von 340'000 Dollar zusammen.
Er will seine «Wut» loslassen
Sein neues Leben in Freiheit möchte Glynn Simmons nun damit verbringen, seine Geschichte zu erzählen. Er will damit seinen Beitrag zu einer Reform des Strafjustizsystems leisten. «Wir müssen etwas tun. Wir müssen wirklich überdenken, was wir hier machen.»
Er will sich aber auch Zeit für sich selbst nehmen. «Ich habe das eine Extrem der Inhaftierung erlebt, jetzt möchte ich das andere Extrem der Befreiung gehen.» Dazu gehöre für ihn auch, die Ressentiments über seine ungerechtfertigte Inhaftierung loszulassen.
«In mir herrscht seit fast 50 Jahren Wut – Wut und Verbitterung. Aber man muss das regulieren, sonst frisst es einen auf. Was geschehen ist, kann nicht rückgängig gemacht werden, also suhle ich mich nicht darin.»