Lässt sich die Kapitol-Stürmung mit dem Klima-Camp vergleichen?
Ab wann nimmt ein Protest extremistische Züge an? Ein Vergleich zwischen dem Kapitol-Sturm und dem Klima-Camp löst eine Kontroverse aus.
Das Wichtigste in Kürze
- Der Kapitol-Sturm der Trump-Anhänger hat mehrere Todesopfer gefordert.
- Ein Schweizer Nationalrat verglich den Sturm mit dem Bundesplatz-Camp der Klimaaktivisten.
- ZHAW-Forscher Dirk Baier über die Grenzen des Extremismus.
Der Schock in Washington sitzt tief: Gewalttätige Trump-Anhänger stürmten am Mittwoch das Kapitol, mehrere Menschen kamen ums Leben. Die Demokratie wurde mit Füssen getreten, so der Tenor der weltweiten Empörung. In der Schweiz hat in der Folge ein Tweet des FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen für einen regelrechten Shitstorm gesorgt.
Der Berner hatte den Kapitol-Sturm mit der illegalen Bundesplatz-Besetzung der Klima-Aktivisten im September verglichen. Politiker, Wissenschaftler und Journalisten haben Wasserfallen für diesen Vergleich attackiert, bis er sich dafür entschuldigte.
BREAKING!!!
— Christian Wasserfallen (@cwasi) January 7, 2021
Grüne & Linke empören sich endlich erstmals über politische #Ausschreitungen (in den USA). #rechtso!
Erst noch gerade halfen sie dabei, dass der #Bundesplatz tagelang ILLEGAL besetzt wurde.
Der Zweck heiligt niemals die Mittel! #lessonlearned? pic.twitter.com/PNOB4cZnoA
Wo liegen die Grenzen zwischen zivilem Ungehorsam und Extremismus? Dirk Baier von der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschafter forscht seit Jahren zu Extremismus und Kriminalität und zeigt im Interview die Grenzen auf.
Nau.ch: Inwiefern ist der Vergleich zwischen gewaltfreiem Klima-Camp und Kapitol-Stürmung berechtigt?
Dirk Baier: Der Vergleich ist völlig unangemessen. Es gibt mindestens zwei zentrale Unterschiede: Erstens wurde der Capitol-Mob durch Lügen und aggressive politische Rhetorik zu dem gezeigten Verhalten animiert; die Bundesplatz-Besetzer hingegen sind von einem realen, wissenschaftlich belegten Problem getrieben, der Klimaveränderung.
Zweitens haben die Angreifer in Washington vor Gewalt gegen Personen nicht zurückgeschreckt und eine reine Zerstörungswut an den Tag gelegt; die Klima-Aktivisten treten zwar zunehmend auch aggressiv auf – die Aggressionen richten sich aber nicht gegen andere Menschen.
Prinzipiell geht es Klima-Aktivisten noch immer darum, die Gesellschaft und die Politik mit friedlichem Protest zu verändern; der Mob in den USA würde hingegen am liebsten das politische, demokratische System abschaffen – das ist Extremismus.
Nau.ch: Dann ist die Gewaltanwendung das trennende Element zwischen einer (gewaltlosen) Besetzung und dem (gewaltvollen) Eindringen in ein Regierungsgebäude.
Dirk Baier: Durch die Gewaltanwendung wird die häufig zitierte «rote Linie» überschritten. Die Gewaltanwendung macht gerade den Unterschied zwischen legitimen Protest und Meinungsäusserung und dem illegitimen extremistischen Verhalten aus. Wer bereit ist, Gewalt zur Durchsetzung eines politischen Ziels zu verfolgen, verlässt den Boden des demokratischen Agierens.
Für mich ist es absolut unverständlich, wie man einen white-supremacy Mob in den USA und Klimaaktivisten in der Schweiz in einen Topf werfen kann. Letztere wollen ein wichtiges Zukunftsthema in der Politik auf demokratischem Weg verankern, erstgenannte wollen die Demokratie und deren grundlegende Rechte abschaffen.
Nau.ch: Worin unterscheidet sich ziviler Ungehorsam von Extremismus grundsätzlich?
Dirk Baier: Dasselbe gewalttätige Handeln kann einmal als angemessen und gerechtfertigt, ein anderes Mal als extremistisch eingestuft werden. Hintergrund der Einschätzung sind immer die gesellschaftlichen Umstände, in denen es zur Gewaltanwendung kommt.
In einem autoritären oder diktatorischen System kann Gewaltanwendung mit dem Ziel der Einführung einer Demokratie als legitim, gar notwendig eingestuft werden. In einer Demokratie ist Gewaltanwendung mit dem Ziel der Abschaffung dieser extremistisch.
Ziviler Ungehorsam ist wiederum nicht mit Gewaltanwendung gleichzusetzen; es kann sich auch einfach um die Weigerung handeln, bestimmten Anweisungen Folge zu leisten. Je weniger geteilt solche Anweisungen in der Bevölkerung sind, umso eher ist der zivile Ungehorsam gerechtfertigt.
Nau.ch: Zum Beispiel?
Dirk Baier: Die Weigerung, Masken zu tragen, könnte ein Akt des zivilen Ungehorsams sein, wenn ein Grossteil der Bevölkerung die Tragepflicht als unangemessen einstufen würde. Zum Glück ist dies nicht der Fall, sodass ein Masken-Verweigerer nicht als Ungehorsamkeits-Held gelten kann.
Nau.ch: Die Haltung in solchen Protesten: Mein Anliegen ist wichtiger als andere, das legitimiert, dass ich mich über die Regeln und Gesetze hinwegsetze. Wie entsteht die Überzeugung, dass der Zweck die Mittel heilt?
Dirk Baier: Mir scheint wichtig, dass es nicht darum geht, ein eigenes Anliegen umsetzen. Dies würde höchstwahrscheinlich nicht solch einen gewalttätigen Mob erzeugen. Es geht vielmehr darum, dass man sich selbst als Teil einer grossen sozialen Bewegung sieht, die im Besitz der Wahrheit und der richtigen Lösung ist und die dann versucht, diese Lösung durchzusetzen.
Der Glaube an eine grosse Idee, deren Teil man ist, kann solch kollektive Gewalt auslösen. Hinzu kommen im aktuellen Fall in Washington noch mindestens zwei Zutaten: Ein Präsident, der seit Monaten die eigenen Anhänger via sozialen Medien anheizt und auf diesen Tag vorbereitet hat. Und ein grosser kollektiver Anlass, zu dem sich die Menschen in Washington versammelt haben.
In der Grossgruppe handeln Menschen teilweise völlig anders als sie individuell handeln würden. Diese Gruppendynamik hat dazu geführt, das man sich aufschaukelt, und der Präsident hat mit seiner Rede letztlich das Kommando gegeben, aktiv zu werden. Dass dann noch nachweislich zu wenig Polizei und Sicherheitskräfte zugegen waren, die die Dynamik rechtzeitig hätten unterbrechen können, tat sein Übriges.