Sicherheitsrat bei Syrien-Hilfe blockiert
Seit 2014 bekommen Notleidende in Syrien humanitäre Hilfe von den UN - nun steht die Unterstützung mitten in der Corona-Pandemie auf der Kippe. Bis Freitag muss der UN-Sicherheitsrat eine Lösung finden.
Das Wichtigste in Kürze
- Nach einer Blockade im UN-Sicherheitsrat warnen Hilfsorganisationen vor den verheerenden Folgen für Millionen Notleidende in Syrien.
Einen Tag nach einem deutsch-belgischen Resolutionsentwurf für die Fortsetzung humanitärer Hilfe scheiterte auch ein russischer Gegenentwurf. Das von Russland eingebrachte Papier habe nicht ausreichend Stimmen für eine Verabschiedung bekommen, teilte der deutsche UN-Botschafter Christoph Heusgen dem Rat per Videokonferenz mit. Deutschland hält derzeit den monatlich rotierenden Vorsitz in dem Gremium, das nur noch bis Freitag Zeit hat, um sich vor Ende der Frist auf eine Verlängerung der Regelung zu einigen.
Hintergrund ist eine seit 2014 bestehende Resolution, die es den UN erlaubt, wichtige Hilfsgüter über Grenzübergänge auch in Teile des Landes zu bringen, die nicht von Syriens Regierung kontrolliert werden. Von den Gütern, die diese Punkte passieren, sind Millionen Menschen abhängig. Nach russischem Widerstand wurden die einst vier Übergänge Anfang des Jahres auf zwei reduziert - seitdem hat sich die Versorgungssituation für einige Regionen deutlich verschlechtert. Russland will nun nur noch einen Übergang, Bab al-Hawa in Nordwestsyrien, für die Lieferung von Hilfsgütern offenhalten.
Russland und China hatten am Dienstag mit Vetos eine deutsch-belgische Resolution zur Fortsetzung der humanitären Hilfe scheitern lassen. Ausser Russland, einem engen Verbündeten Syriens, und China stimmten alle 13 anderen Mitglieder des Rats dem Text zu. Am Mittwoch scheiterte dann auch der russische Gegenentwurf, der sich für die Offenhaltung von nur einem Grenzübergang ausgesprochen hatte. Nur vier Länder stimmten für das Papier - Russland, China, Vietnam und Südafrika. Sieben, darunter Deutschland, die USA, Grossbritannien und Frankreich, stimmten dagegen. Die restlichen vier Länder enthielten sich.
Russlands oberstes Ziel sei es, dem syrischen Präsidenten Baschar al-Assad wieder zur Macht im ganzen Land zu verhelfen, sagte Heusgen dem ARD-Hörfunk. «Und da ist es Russland egal, welche Mittel sie einsetzen. Sie gehen da buchstäblich über Opfer, über die leidende Bevölkerung.» Es gehe um das Schicksal von 2,8 Millionen Menschen.
Aussenminister Heiko Maas kritisierte Russland und China. Die Blockadehaltung einiger Partner im UN-Sicherheitsrat setze Menschenleben aufs Spiel, sagt der SPD-Politiker der «Süddeutschen Zeitung». «Es ergibt schlichtweg keinen Sinn, angesichts der sich noch verschärfenden Krise weiter humanitäre Zugänge zu verringern.» Vor allem bei humanitären Fragen sollten politische Zwistigkeiten hintenan gestellt werden, mahnte Maas.
Eine weitere Reduzierung der Zahl der Grenzübergänge wäre «ein grosser Rückschlag für die humanitäre Hilfe» im Nordwesten Syriens, erklärte der Programmkoordinator der Welthungerhilfe für die Region, Konstantin Witschel. «Es würde zwangsläufig zu grossen Versorgungsengpässen für die notleidende Bevölkerung kommen», warnte er. Die Hungerkrise würde sich noch einmal dramatisch zuspitzen.
Das Bürgerkriegsland leidet derzeit unter einer schweren Wirtschaftskrise. Die Corona-Pandemie und neue US-Sanktionen haben die Lage weiter verschärft. Das syrische Pfund ist in den vergangenen Monaten abgestürzt. Auch in den Regierungsgebieten klagen viele Syrer über eine mangelnde Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten. Die Lebensmittelpreise stiegen im Juni im Vergleich zum Vormonat nach Angaben des Welternährungsprogramms (WFP) um fast 50 Prozent.
Nach WFP-Schätzungen haben rund 9,3 Millionen Syrer nicht mehr genug zu essen und sind deshalb auf humanitäre Hilfe angewiesen. Das sei eine Zunahme um 1,4 Millionen in den vergangenen sechs Monaten. Die Lage im von Regierungsgegnern kontrollierten Nordwesten Syriens ist besonders angespannt. Anfang des Jahres waren rund eine Million Menschen vor einer Regierungsoffensive in die Region geflohen.
Russland argumentiert, der bisherige Hilfsmechanismus müsse wegen des wachsenden Einflusses der Regierung im Land «schrittweise auslaufen» und von einem neuen System von Hilfslieferungen ersetzt werden, sagte UN-Botschafter Wassili Nebensja der Agentur Interfax zufolge. Rund um Idlib würden Rebellen nicht mehr so viele Gebiete kontrollieren.
Moskau hat bei dem Streit eine starke Verhandlungsposition, da es auf das System der grenzüberschreitenden Hilfe verzichten kann, falls kein Kompromiss gefunden wird: Russlands Militär hat in Syrien eigene Stützpunkte.
«Wir sind uns bewusst, dass den humanitären Bedürfnissen aller Syrer nachgekommen werden muss», sagte Nebensja. Er warnte den UN-Sicherheitsrat davor, diese Frage zu politisieren. Der bisherige Mechanismus sei ohnehin nur als «vorübergehende Sofortmassnahme konzipiert gewesen, die der Sicherheitsrat damals genehmigte».
Nach Ansicht Deutschlands und anderer Länder im 15-köpfigen Sicherheitsrat werden beide momentan bestehenden Grenzübergänge von der Türkei nach Syrien weiterhin dringend benötigt, falls einer von ihnen kampfbedingt ausfällt. Auch die Vereinten Nationen hatten noch einmal betont, die Hilfskorridore seien «lebenswichtig» für viele Zivilisten in Syrien.
Der aussenpolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, Jürgen Hardt, kritisierte die Blockade Russlands und Chinas als menschenverachtend und zynisch. Der grüne Aussenpolitiker Omid Nouripour sprach von einer humanitären Katastrophe, die das Vertrauen in die Arbeitsweise der UN zerstöre.
Eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes in Berlin betonte, dass etwa 2,8 Millionen Menschen von den UN-Nahrungsmittelhilfen abhängig seien. «Die grenzüberschreitende Versorgung ist für sie die einzige Möglichkeit, humanitäre Hilfe zu erhalten, da das syrische Regime Hilfslieferungen aus Damaskus weiterhin massiv erschwert.» Deutschland und Belgien hatten bei den Verhandlungen im Vorfeld wegen russischen Widerstands bereits auf einen weiteren Übergang an der Grenze zum Irak verzichtet, der angesichts der Corona-Krise besonders wichtig für den Nachschub mit medizinischen Gütern wäre.
Seit Ausbruch des Syrien-Konflikts im März 2011 sind Schätzungen zufolge mindestens 500.000 Menschen ums Leben gekommen. Die Regierungsanhänger kontrollieren mittlerweile wieder rund zwei Drittel des Landes, darunter die grossen Städte.