Fünf Jahre nach dem Flüchtlingssommer: Asylpolitik trennt
Das Elend in den Krisenregionen der Welt kennen die meisten Deutschen nur vom Bildschirm. Vor fünf Jahren standen Hunderttausende Geflüchtete mit einem Mal vor der Tür. Die Sympathie war anfangs gross. Und heute?
Das Wichtigste in Kürze
- Sie haben sich eingemauert in ihrer Weltsicht, die «Refugees Welcome»-Fraktion ebenso wie die Gegner einer liberalen Asylpolitik.
Spricht man mit den einen, zählen sie Beispiele auf von Syrerinnen, die ihr Abitur mit Bravour geschafft und Irakern, die ein eigenes Geschäft eröffnet haben. Fragt man die anderen, verweisen sie auf die höhere Kriminalitätsrate der Zuwanderer und auf die vielen Flüchtlinge, die bis heute ohne Job sind.
So lebt - fünf Jahre nach der sogenannten Flüchtlingskrise - immer noch jeder in Deutschland in seiner eigenen Realität. Bis heute birgt die Aufnahme von mehr als 1,1 Millionen Asylsuchenden in den Jahren 2015 und 2016 genügend Streitpotenzial, um Familienfeiern und Grillabende im Bekanntenkreis zu sprengen.
«Das Jahr 2015 hat eine Spaltungslinie in der deutschen Gesellschaft offen gelegt: auf der einen Seite jene, die sich in der Flüchtlingshilfe engagieren; auf der anderen Seite hat der Zuzug so vieler Menschen Fremdenfeindlichkeit hervorgerufen, rational nicht begründete Ängste», sagt der Politikwissenschaftler Herfried Münkler. «Der Sog zur politischen Mitte hin, den wir vorher gesehen haben, fand da ein Ende.»
Der fundamentale Meinungsstreit ist noch immer nicht überwunden. Das Bild ist nach Auskunft von Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen allerdings stabil: «Wir haben seit der Flüchtlingskrise relativ wenig Stimmungsveränderungen, von gelegentlichen Ausschlägen bei Ereignissen wie der Kölner Silvesternacht abgesehen. Auf die Frage, ob Deutschland die Zahl der angekommenen Flüchtlinge gut verkraften kann, stimmen 60 Prozent zu, 40 verneinen das.»
VERBITTERUNG UND TIEFE GRÄBEN
Die Verbitterung, mit der über Asylpolitik gestritten wird, ist vergleichbar mit den Auseinandersetzungen in der Corona-Krise. Auch hier erscheinen die Gräben oft unüberwindbar tief.
Ein Blick zurück: Ende August, Anfang September 2015. Am Bahnhof Keleti in Ungarns Hauptstadt Budapest drängen sich die Menschen bei brütender Hitze in den Gängen. Sie schlafen auf dünnen Matten, hoffen auf eine Chance zur Weiterreise und eine Gelegenheit zu duschen. Es werden stündlich mehr. Viele kommen aus Syrien, einige aus Nordafrika, aus dem Irak, aus Afghanistan.
Von Ungarn machen sie sich auf den Weg, zu Fuss über die Autobahn Richtung Österreich. Unter dem Druck der Ereignisse einigen sich Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihr österreichischer Kollege Werner Faymann in der Nacht auf den 5. September, die Menschen einreisen zu lassen. Ungarns Regierungschef Viktor Orban lässt sie mit Bussen zur österreichischen Grenze bringen. Am Münchner Hauptbahnhof werden sie mit Applaus und Willkommensplakaten empfangen.
Dass sich Deutschland, aus dem während der Nazi-Herrschaft so viele Menschen geflohen waren, grosszügig zeigt, fanden viele Bürger angemessen und gut. Einige berauschten sich regelrecht am Lob, mit dem die deutsche «Willkommenskultur» international gefeiert wurde.
ANTRAGSCHAOS UND FEHLENDE SCHLAFPLÄTZE
In praktischen Fragen allerdings herrschte teilweise schon in den ersten Wochen Ernüchterung und Ratlosigkeit. Wie die Registrierung der vielen Asylsuchenden bewältigen, ihre Unterbringung? Und was wird aus denen, die offensichtlich weder Bürgerkrieg noch politische Verfolgung, sondern schlicht der Wunsch auf ein Leben in bescheidenem Wohlstand nach Deutschland trieb?
Die praktischen Probleme habe man dann irgendwie in den Griff bekommen - auch dank des grossen Engagements der Verantwortlichen in den Kommunen, bilanziert Reinhard Sager, Präsident des Deutschen Landkreistags. Die langfristigen Herausforderungen seien aber noch keineswegs bewältigt. Nicht nur die hohe Zahl der Asylsuchenden habe Deutschland «an die Grenzen seiner Integrationsfähigkeit geführt» - auch, dass viele der Flüchtlinge kamen, ohne dass sie sich vorbereiten konnten. «Mangelnde Kenntnisse der deutschen Sprache, erhebliche kulturelle Unterschiede, das Fehlen oder die nicht gegebene Anerkennungsfähigkeit von Bildungsabschlüssen - alles Umstände, die die Integration hierzulande erschweren.»
MAMMUTAUFGABE INTEGRATION
Ende 2019 waren in Deutschland 363.000 Menschen aus Afghanistan, Eritrea, Irak, Iran, Nigeria, Pakistan, Somalia und Syrien sozialversicherungspflichtig beschäftigt, darunter 55.000 Auszubildende. Weitere 75.000 Menschen zählt die Bundesagentur für Arbeit unter den geringfügig Beschäftigten. Darunter sind allerdings auch Zuwanderer, die nicht als Flüchtlinge kamen, sondern beispielsweise als Studenten, Ehegatten oder Erwerbsmigranten. Die Arbeitslosenquote für diese Länder lag im Mai nach vorläufigen Daten bei 39,8 Prozent - viel höher als in der Gesamtbevölkerung.
Hinzu kommt: Gerade bei der Migration steht das Prinzip manchmal dem Pragmatismus im Weg. Erst im vergangenen Jahr hat die grosse Koalition ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz zustande gebracht. Insbesondere in CDU und CSU geht die Furcht um, allzu grosse Offenheit könne als Signal verstanden werden, dass jeder willkommen sei. Deshalb gibt es den Zugang zum Arbeitsmarkt für die meisten Migranten erst dann, wenn entschieden ist, dass sie bleiben dürfen.
Politologe Münkler kritisiert diese zögerliche Integration in die Arbeitswelt. «Man muss die Leute hier schnell in Jobs bringen, auch wenn sie noch nicht perfekt Deutsch sprechen und am Ende im Asylverfahren vielleicht abgelehnt werden. Die Menschen haben Schlimmes hinter sich, sind zum Teil Tausende Kilometer geflohen, und dann werden sie hier kaserniert und sitzen untätig herum. Das schafft Probleme.» Das Land brauche doch Arbeitskräfte - und Geringqualifizierte könne man ja weiterbilden. «Wenn man Integration nicht aktiv angeht, dann hat man später Probleme, wie wir sie heute mit teils kriminellen libanesischen Clans haben.»
Eine weitere Messlatte für die Integration ist Kriminalität. Anhaltspunkte liefert das jährliche «Lagebild Kriminalität im Kontext von Zuwanderung» des Bundeskriminalamts, in dem es um Asylbewerber, Flüchtlinge, Geduldete und sich unerlaubt im Land aufhaltende Nicht-EU-Bürger geht.
Die Polizei stellt fest: Migranten aus Afghanistan, dem Irak und Syrien, die realistische bis sehr gute Chancen auf Schutz hierzulande haben, werden deutlich seltener kriminell als zum Beispiel Migranten aus den Maghreb-Staaten, von denen nur sehr wenige als Flüchtlinge anerkannt werden. Aus den Statistiken lässt sich auch ableiten, dass Zuwanderer bei Mord, Totschlag, schwerer Körperverletzung und Vergewaltigung überrepräsentiert sind - wie junge Männer insgesamt.
PROBLEME BEI ABSCHIEBUNGEN
Die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber ist und bleibt jedoch äusserst schwierig. Die Fluchtzuwanderung habe auch zu einer Veränderung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse beigetragen, stellt der Landkreistag fest. Verbandspräsident Sager: «Die Auseinandersetzung um die Frage, ob und in welchem Umfang Schutzsuchende aufgenommen werden sollen, hat - auch angesichts offenkundiger Missbrauchsfälle und vor allem auch der Tatsache, dass eine grosse Zahl abgelehnter Schutzsuchender das Land nicht freiwillig verlässt und Abschiebungen häufig scheitern - im Lauf der Zeit an Schärfe gewonnen.» Insgesamt müsse man sagen: «Das gesellschaftliche Klima hat darunter gelitten.»
Auf politischer Ebene könnte die Asylzuwanderung nach der nächsten Bundestagswahl zum schwierigsten Thema möglicher Koalitionsverhandlungen zwischen Union und Grünen werden. Zwar können die Grünen das von Innenminister Horst Seehofer (CSU) inzwischen immer wieder bemühte Konzept von «Humanität und Ordnung» in der Migrationspolitik prinzipiell unterschreiben. Wie viel Humanität nötig und möglich ist, darüber gehen die Meinungen aber deutlich auseinander. Der Streit um die Aufnahme zusätzlicher Asylbewerber in Berlin und Thüringen aus überfüllten griechischen Lagern zeigt das gerade wieder.
Und wie viel Ordnung braucht es? Der Präsident des Landkreistags warnt: «In keinem Fall darf noch einmal der Eindruck entstehen, die Zuwanderung - auch und gerade die Fluchtzuwanderung - entziehe sich staatlicher Steuerung.» Auch Politologe Münkler, ein Verteidiger der Politik des Jahres 2015, merkt an: «Es ist legitim, wenn Deutschland die Zuwanderung begrenzt, nachdem wir so viele Menschen aufgenommen haben, und uns um die kümmern, die nun hier sind.»
Seehofer, damals noch bayerischer Ministerpräsident, hatte die ungehinderte Einreise von Hunderttausenden Asylsuchenden - die mehrheitlich keine Ausweise bei sich trugen - 2016 als «Herrschaft des Unrechts» bezeichnet. Mittlerweile versucht er, eine grundsätzliche Reform des europäischen Asylsystems voranzutreiben.
Er will weg von dem Prinzip, dass Asylsuchende in der Regel da ihren Antrag auf Schutz stellen müssen, wo sie zuerst in die EU einreisen, und dann mit grossem Aufwand dorthin zurückgeschickt werden, wenn sie weitergereist sind. Seehofer plädiert für eine «Vorprüfung» an den Aussengrenzen der EU. Nur diejenigen, die eine Chance auf Asyl haben, sollen in Europa verteilt, alle anderen möglichst direkt abgeschoben werden. Doch das Vorhaben stockt, weil sich einige Staaten, in denen kaum Schutzsuchende ankommen, seit Jahren gegen einen neuen Verteilungsmechanismus wehren. Und dann kam auch noch Corona.
ASYLBEWERBER, FLUCHTMIGRANTEN ODER GEFLÜCHTETE?
Wer wo steht, lässt sich oft schon an der Wahl der Begriffe ablesen, mit denen sie oder er die Menschen bezeichnet, um die es geht. Wer einen Baumwollbeutel mit der Aufschrift «Kein Mensch ist illegal» oder «Seebrücke» trägt, wird Ausländer, die Schutz beantragen, eher «Flüchtlinge» oder «Geflüchtete» nennen - unabhängig davon, ob der Grund für das Verlassen des Herkunftslands politische Verfolgung, Terror, ein bewaffneter Konflikt oder wirtschaftliche Perspektivlosigkeit war.
Die Experten des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration sprechen dagegen nur von «Flüchtlingen», wenn es um Menschen geht, deren Asylantrag erfolgreich war. Der zunehmend verbreitete Begriff «Geflüchtete» sei «breiter, da er sich nicht allein auf die Rechtslage bezieht», erklärt die Vorsitzende Petra Bendel. «Er ist historisch noch nicht so stark besetzt und schliesst tendenziell alle Geflüchteten unabhängig vom Geschlecht ein.» Politiker der AfD sprechen dagegen lieber von «illegaler Masseneinwanderung» und «sogenannten Flüchtlingen».
Für die AfD, die nach der Abspaltung des wirtschaftsliberalen Flügels um Parteimitgründer Bernd Lucke 2015 in der Krise steckte, war der grosse Andrang von Asylbewerbern im Herbst des gleichen Jahres taktisch gesehen ein «Geschenk», wie ihr heutiger Ehrenvorsitzender Alexander Gauland Ende damals einräumte. Durch die Positionierung als Anti-Asyl-Partei konnte die AfD viele Anhänger gewinnen. Dem «Spiegel» sagte Gauland damals: «Natürlich verdanken wir unseren Wiederaufstieg in erster Linie der Flüchtlingskrise.»
Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen glaubt allerdings, dass CDU/CSU der AfD in den Folgejahren Rückenwind verschafft haben, auch wenn das wohl keine Absicht war. Der Meinungsforscher sagt: «Die Union hat im Bundestagswahlkampf 2017 dafür gesorgt, dass das Thema Migration wieder Fahrt aufnahm, wovon die AfD profitieren konnte.»
Das Leid der Geflüchteten, die im Mittelmeer ertrinken oder in Elendslagern hausen, berührt viele Deutsche heute weit weniger als noch vor einigen Jahren, stellt Jung fest. «Wenn man das Gefühl hat, ein Problem lässt sich nicht lösen, dann schaut man lieber weg.» Hinzu komme eine Ambivalenz: «Wenn Menschen das Leid von Flüchtlingen sehen, wollen sie helfen. Sie haben aber auch Angst, dass die Zuwanderung zu Veränderungen führt. Man hilft gerne. Aber das ganze Problem soll auch bitte verschwinden.»