Geheimdienstfehler und ein Lebenszeichen des IS
In den Anschlägen in Sri Lanka stecke viel IS, sagt ein Experte. Es könnte die bislang tödlichste Tat der Terrormiliz gewesen sein. Die Selbstmordattentäter gehörten aber einer unbekannten einheimischen Gruppe an - das gibt Rätsel auf.
Das Wichtigste in Kürze
- Der junge Mann mit dem schweren Rucksack fasst einem kleinen Mädchen im Vorbeigehen an die Schulter.
Dann betritt er die St.-Sebastian-Kirche im sri-lankischen Negombo, in der gerade eine gut besuchte Ostermesse stattfindet.
Auf den Aufnahmen von Überwachungskameras ist nicht zu sehen, wie er die Bombe in dem Rucksack zündet. Seit diesem Moment am Ostersonntag sieht die Welt aber das Leid, das er und acht andere Selbstmordattentäter angerichtet haben. Nur wer sie waren und warum sie das gemacht haben, ist nicht so eindeutig.
Soweit sie das überblicke, seien die Anschläge in Sri Lanka mit mehr als 350 Toten die tödlichsten, die jemals irgendwo auf der Welt mit der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Verbindung gebracht wurden, twitterte die IS-Korrespondentin der «New York Times», Rukmini Callimachi.
Als der IS die Anschläge für sich reklamiert, ist alles so wie bei früheren Attacken der Islamisten: die Nachricht in den Propagandakanälen im Internet, das Video mit der schwarzen Fahne des IS und dem Treueeid der Attentäter. «Das Bekennerschreiben war authentisch», sagt IS-Experte Peter Neumann vom Londoner King's College. «Es gibt offenbar eine Verbindung zum IS; jetzt muss man ermitteln, ob Rückkehrer dahinter stecken oder es konkrete Anweisungen gab.»
Der IS müsse in irgendeiner Form operativ beteiligt gewesen sein, glaubt auch Ajai Sahni, Chef des Beobachtungszentrums South Asia Terrorism Portal in der indischen Hauptstadt Neu Delhi. Eine Gruppe, die noch nie terroristisch aktiv gewesen sei, könne nicht einfach so neun Bomben mit derartigem zerstörerischen Potenzial bauen - und das unbemerkt.
Die neun Selbstmordattentäter waren Sri Lanker und gehörten nach Regierungsangaben einer ziemlich unbekannten Islamistengruppe an. «Ich hatte keine Ahnung von dieser Gruppe», sagt Sahni. «Ich habe die grösste Datenbank über Südasien in der Welt, und sie tauchte darin nicht auf», sagt er. Die sri-lankischen Behörden hätten die Gruppe National Thowheeth Jamaath offenbar nicht auf dem Schirm gehabt. Das sei erstaunlich, denn als er nach den Anschlägen recherchiert habe, habe er entdeckt, dass die Gruppe schon seit Jahren durch eine salafistische Ideologie und durch Gewalt - wenn auch in kleinerem Massstab - gegen andere Religionsgruppen aufgefallen war.
Sri Lanka war bislang nicht als wichtiges Einflussgebiet des Islamischen Staates bekannt. Die sri-lankische Regierung sprach 2016 von lediglich 36 «gut ausgebildeten» Personen, die sich von Sri Lanka aus dem IS in Syrien angeschlossen hätten. Terrorismusexperten sind sich einig, dass der Grossteil der ausländischen IS-Kämpfer aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie aus Europa nach Syrien gegangen ist - nicht aus Südasien.
«Trotzdem steckt in diesem Anschlag mehr IS als bei vielen anderen Anschlägen in der Vergangenheit», sagt Extremismusforscher Neumann. Wenn man die Terrormiliz medizinisch mit einem Virus vergleiche, dann sei der Erreger - das Herrschaftsgebiet in Syrien und im Irak - zwar nicht mehr vorhanden, das Virus habe sich aber längst auf andere Teile ausgebreitet.
Eine interessante Parallele zu den Sri-Lanka-Anschlägen ist der Angriff auf das bei Touristen beliebte Café Holey Artisan Bakery im Diplomatenviertel von Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch, im Jahr 2016. Angreifer mit Macheten stürmten es, hielten es die ganze Nacht besetzt und töteten 20 Gäste, von denen die meisten aus Italien oder Japan stammten.
Auch damals reklamierte der IS die Tat für sich, und auch damals machte die örtliche Regierung eine einheimische islamistische Gruppierung dafür verantwortlich. Damals in Bangladesch wie jetzt in Sri Lanka waren die Täter gebildet und relativ wohlhabend. Bei Anschlägen in Europa und der arabischen Welt stammen IS-Anhänger eher aus problematischen Beziehungen oder der Unterschicht. Nicht so in Südasien, sagt Sahni.
Der IS rekrutiere vor allem über das Internet, und zwar auf eine Weise, dass man einen eigenen Computer und eine eigene Internetverbindung brauche. Das treffe in der Region nun mal nicht auf jeden zu. Radikalisierte kämen zunehmend aus gutem Hause.
Der IS gilt in seinem Stammgebiet in Syrien und dem Irak als besiegt. Gefährlich ist er aber trotzdem noch. «So ein Anschlag ist extrem wichtig für die Gruppe. Der IS steckt in einer Krise», sagt Neumann. Viele Anhänger weltweit fragten sich, was denn jetzt weiter passiere, wo man das Territorium und das Kalifat verloren habe. «Das ist jetzt deren Art zu zeigen: Wir leben noch.»
Dass der Terrormiliz das gelang, lag letztlich auch daran, dass die sri-lankischen Behörden nicht auf die sehr detaillierten Warnungen indischer Geheimdienste reagierten. «Ich habe noch nie einen terroristischen Vorfall gesehen, bei dem es so viele spezifische Hinweise gab, die komplett unbeachtet blieben», sagt Sahni.
«Ich denke, ein Teil der Erklärung ist, dass die Führung des Landes derzeit in Aufruhr ist», twitterte Amarnath Amarasingam, ein kanadischer Extremismusforscher sri-lankischer Herkunft. Ausserdem könne es sein, fügt er hinzu, dass schlicht niemand einen Anschlag dieser Grössenordnung - zumal auf die kleine Minderheit der Christen - in Sri Lanka für realistisch hielt.