Sie fressen Landwirten die Ernte weg und treten ihnen die Felder kaputt: Vagabundierende Kühe werden in Nordindien zu einem grossen Problem. Schuld ist eine Politik, die eigentlich für den Schutz der heiligen Tiere sorgen soll.
Eine beinamputierte Kuh liegt in einer Auffangstation im nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh. Foto: Nick Kaiser
Eine beinamputierte Kuh liegt in einer Auffangstation im nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh. Foto: Nick Kaiser - dpa-infocom GmbH

Das Wichtigste in Kürze

  • Mit dem Gehstock deutet Bauer Ved Pal Singh auf sein Weizenfeld.
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Von vielen der Pflanzen fehlt ein Stück - sie sind angeknabbert.

Ruiniert seien sie, wenige Wochen vor der Ernte, sagt Singh. Das Feld nebenan ist von runden Löchern übersät, die offenbar von Hufen stammen. Hier im nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh (genannt UP) werden Tiere zu einem Problem, die in dem hinduistischen Land eigentlich verehrt werden: Kühe.

Richtig schlimm ist es den Landwirten zufolge ausgerechnet, seit im März 2017 der Hindu-Priester Yogi Adityanath Regierungschef des 200-Millionen-Einwohner-Bundesstaates wurde. Die Regierung von der hindu-nationalistischen Partei BJP, die auch vom nahe gelegenen Neu Delhi aus das ganze Land regiert, hat in UP den Schutz der Kuh zur Priorität erklärt. Manche Bauern meinen, dadurch gehe es sowohl den Tieren als auch den Menschen letztlich schlechter.

Denn: In UP und den meisten anderen indischen Bundesstaaten ist es verboten, Kühe zu schlachten. Es hat aber immer illegale Schlachthöfe gegeben, an die Bauern ihre Kühe verkaufen konnten, wenn diese keine Milch mehr gaben. Es sind üblicherweise Angehörige der muslimischen Minderheit - denen Kühe eben nicht heilig sind - die die Schlachthöfe betreiben und die Rinder transportieren.

Radikale Hindu-Nationalisten haben sich, besonders in UP, seit der Amtsübernahme von Premierminister Narendra Modi im Jahr 2014 aber verstärkt zusammengetan und im Namen des Schutzes der heiligen Kuh Menschen angegriffen, denen sie vorwerfen, Kühe zu einem Schlachthof gebracht, getötet oder gegessen zu haben. In einem Bericht von vergangener Woche zählte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch allein zwischen Mai 2015 und Dezember 2018 44 Todesopfer bei solchen Angriffen - darunter 36 Muslime. Angehörige der BJP hätten öffentlich zu dieser Gewalt angestachelt, hiess es.

Das hat abschreckende Wirkung. Die Regierung von Adityanath hat zudem Schlachthöfe geschlossen. Nun wissen Bauern nicht mehr, wohin mit ihren Kühen. Sie können es sich nicht leisten, sie weiter zu füttern, nachdem sie aufhören, Milch zu geben. Viele Rinder werden daher einfach freigesetzt und irren nun in der Gegend umher. Dabei zerstören sie Felder - und werden sogar für Menschen zur Gefahr.

«Die Kühe greifen Bauern an», erzählt Ved Pal Singh. «Einer ist hier in der Nähe gestorben, und einer Frau hat eine Kuh mit den Hörnern den Bauch aufgeschlitzt.» Er bewache nun immer bis spät abends sein Feld und stehe auch nachts auf, um nach dem Rechten zu sehen. Trotzdem schafften es immer wieder Kühe auf das Feld - was zu einem grossen Einnahmeverlust bei der Ernte führen werde.

Die Landwirte sind überwiegend Hindus und daher zwiegespalten. «Die Kühe sind uns nicht egal, denn sie sind in unserer Religion heilig», erklärt Vijay Singh. Die gegenwärtige Situation sei aber auch für die Tiere schlecht. «Vorher hatten sie wenigstens einen würdevolle Tod - am Ende ihrer Melkzeit, wenn sie sich nicht mehr bewegen konnten, haben die Leute vom Schlachthof sie sauber entsorgt», sagt Singh. «Jetzt sieht man überall streunende, schwache Tiere. Sie werden auf der Strasse angefahren oder verscheucht.»

Ein besseres Schicksal erwartet die Kühe in Auffangstationen wie der von Friederike Brüning. Die Deutsche wuchs im Raum Frankfurt am Main auf, ging nach dem Abitur nach Indien, wurde Hinduistin und lebt nun seit gut 40 Jahren hier. Auf ihrem Hof in UP kümmern sich Brüning und ihre Mitarbeiter um mehr als 1000 Kühe. Sie behandeln kranke und verletzte Tiere und leisten Sterbehilfe. Finanziert wird das Ganze aus Brünings eigener Tasche sowie durch Spenden und den Verkauf von getrockneten Kuhfladen, die in Indien zum Heizen verwendet werden. Für ihren Einsatz hat die indische Regierung Brüning im Januar den Padma-Shri-Preis - eine Art Bundesverdienstorden - verliehen.

Es gibt aber einfach zu viele herrenlose Kühe. In Nordindien sieht man sie überall, in Städten wie auf dem Land, am Strassenrand Plastikmüll fressen. Im Ort Jewar, nicht weit von Indiens Hauptstadt Neu Delhi, gibt es eine Auffangstation auf dem Gelände eines Tempels. Hier stehen rund 300 Rinder, nach Geschlecht getrennt, dicht an dicht in zwei Ställen. In einer Ecke liegt unter einer Decke eine Kuh, die von einem Auto angefahren wurde und der alle Beine amputiert werden mussten. Am Eingangstor prangen Bilder von Modi und Adityanath.

Die Regierung habe Geld zugesagt, es aber nie geschickt, erklären die sechs Mitarbeiter. Die Auffangstation sei voll - für die Kühe, die auf dem nahe gelegenen Feld von Ved Pal Singh ihr Unwesen treiben, sei hier kein Platz mehr. Eine neue Auffangstationen sei geplant, der Bau komme aber nicht voran.

Nachdem verzweifelte Bauern in mehreren Orten in UP Kühe in Gebäude wie Schulen gesperrt hatten, kündigte Adityanaths Regierung zunächst Strafen an. Berichten zufolge wollte sie Kühen zudem Strichcodes verpassen. In wenigen Monaten steht in Indien allerdings eine Parlamentswahl an, und Landwirte sowie gläubige Hindus sind Kernwählergruppen für die BJP. Nun hat die Regierung angekündigt, in diesem Jahr mehr als doppelt so viel Geld für Auffangstationen und die Pflege von Kühen auszugeben wie bisher.

Die Bauern sind allerdings skeptisch, was die Glaubwürdigkeit der Versprechen von Politikern kurz vor einer Wahl angeht. Es sei im Prinzip richtig, dass die Regierung Kühe schützen wolle, meint Vijay Singh. «Ich wäre einverstanden - wenn sie denn die Kuh wie eine Mutter behandeln würde, wie es unsere Religion vorschreibt.»

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