In Afghanistan beginnt ein neues, ungewisses Kapitel. Viele sorgen sich über eine mögliche Rückkehr zur alten Schreckensherrschaft der Taliban. Die UN wollen notleidende Menschen so gut es geht versorgen.
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Generalmajor Chris Donahue, Kommandeur der 82. Luftlandedivision der US-Armee, XVIII. Luftlandekorps, verlässt als letzter US-Soldat afghanischen Boden (Aufnahme durch Nachtsichtgerät). Foto: Uncredited/U.S. Central Command via AP/dpa - dpa-infocom GmbH

Das Wichtigste in Kürze

  • Die US-Truppen sind nach fast 20 Jahren aus Afghanistan abgezogen - nun richten sich die Blicke ganz auf die erneute Herrschaft der militant-islamistischen Taliban.
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Die Vorstellung der neuen Führung wird in Kürze erwartet.

Der Taliban-Führungsrat besprach die Bildung einer neuen islamischen Regierung sowie die aktuelle Lage und die Sicherheit im Land bei einem Treffen in der südlichen Provinz Kandahar. Bislang ist weitgehend unklar, wie die Taliban das Krisenland regieren wollen.

Das Treffen von Samstag bis Montag leitete Taliban-Führer Haibatullah Achundsada, wie Sprecher Sabiullah Mudschahid am Dienstag auf Twitter mitteilte. Auch über ein neues islamisches Kabinett sei dabei gesprochen worden. Anschliessend habe Achundsada dem Führungsrat umfassende Anleitungen gegeben. Den Ort des Treffens nannte Mudschahid nicht. Unterdessen versuchten Taliban-Kämpfer laut Widerstandskämpfern, in die einzige nicht von ihnen kontrollierte Provinz Pandschir im Nordosten vorzudringen.

Die Taliban haben Mitte August nach einem militärischen Eroberungszug in Afghanistan die Macht übernommen. Bisher traten die Islamisten gemässigter auf als während ihrer Herrschaft von 1996 bis 2001 und gaben sich versöhnlich. Viele Afghanen bezweifeln, dass sie bei dieser Linie bleiben. Es gibt Berichte über Menschenrechtsverletzungen und etwa Angriffe auf Journalisten. Zum Abzug der US-Soldaten gratulierten die Taliban dem afghanischen Volk und erklärten: «Dieser Sieg gehört uns allen.»

Das letzte US-Militärflugzeug hob am Montagabend eine Minute vor Mitternacht vom Flughafen Kabul ab. Damit beendeten die USA ihren Militäreinsatz nach fast 20 Jahren. Der Abflug machte den Taliban-Kämpfern den Weg auf das Flughafengelände frei, das sie sofort erkundeten. Militärisches Gerät hatten US-Soldaten vorher unbrauchbar gemacht - bis auf «ein paar Feuerwehrautos und ein paar Gabelstapler», wie Pentagonsprecher John Kirby dem Sender CNN sagte.

Biden räumt keine Fehler ein

Der Abzug der letzten US-Soldaten markierte auch das Ende der militärischen Evakuierung von US-Bürgern, Verbündeten und schutzbedürftigen Afghanen. Zurückgebliebene Amerikaner und andere Schutzsuchende wollen die USA nach Worten von Präsident Joe Biden aber weiter mit diplomatischen Mitteln soweit möglich aus dem Land holen.

Biden machte am Dienstag erneut die frühere afghanische Regierung und die Sicherheitskräfte des Landes für die Machtübernahme der Taliban verantwortlich. Die afghanischen Sicherheitskräfte seien entgegen den Erwartungen kein starker Gegner im Kampf gegen die Taliban gewesen, sagte Biden im Weissen Haus.

Die afghanische Regierung sei kollabiert, Präsident Aschraf Ghani sei ausser Landes geflohen. Sie hätten damit «das Land ihren Feinden übergeben, den Taliban». Damit sei die Gefahr für die US-Streitkräfte und ihre Verbündeten gestiegen. Eigene Fehler beim Abzug der US-Soldaten räumte der US-Präsident nicht ein.

Nach 20 Jahren wieder an der Macht

Mit dem Abzug überlässt der Westen das Land wieder jenen Islamisten, die er Ende 2001 entmachtet hatte. Die USA und ihre Verbündeten hatten teils mehr als 100.000 Soldaten dort im Einsatz, wobei die USA die schwersten Verluste verzeichneten. «Wir haben 2461 Soldaten in diesem Krieg verloren», teilte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin zum Ende der Mission mit. Zehntausende weitere hätten sichtbare und unsichtbare Verletzungen erlitten. «Die Narben des Kampfes heilen nicht leicht und heilen oft überhaupt nicht», erklärte Austin.

Die Bundeswehr hatte ihre Evakuierung Schutzbedürftiger bereits am Donnerstag beendet, Frankreich, Spanien und Grossbritannien am Freitag und Samstag. Immer noch befinden sich aber Zehntausende in Afghanistan, die vor den Taliban fliehen wollen - meist Afghanen. Laut US-Aussenministerium sind auch noch 100 bis 200 US-Amerikaner in Afghanistan, die das Land verlassen wollen, und dem britischen Aussenminister Dominic Raab zufolge eine «niedrige dreistellige» Zahl Briten. Die meisten seien wegen fehlender Papiere «schwierige Fälle», sagte Raab.

Die Mitarbeiter zweier deutscher politischer Stiftungen konnten auf dem Landweg nach Pakistan ausreisen. Ziel sei es, sie bald in Deutschland in Empfang zu nehmen, teilten die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung und die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung mit. Nach dpa-Informationen wurden insgesamt etwa 100 Menschen in einem Konvoi über die Grenze gebracht.

Bundesaussenminister Heiko Maas (SPD) rief bei einem Besuch im benachbarten Pakistan dazu auf, sich vor Militäreinsätzen künftig besser über die Ziele klar zu werden. Diese seien nicht geeignet, «um langfristig eine Staatsform zu exportieren», sagte Maas. Der Versuch sei in Afghanistan gescheitert.

In einer gewaltigen Evakuierungsmission, die US-Präsident Biden als «grösste Luftbrücke in der Geschichte der USA» bezeichnete, hatten die Vereinigten Staaten und ihre Partner Landsleute sowie afghanische Schutzbedürftige ausgeflogen. Allein das US-Militär flog General Kenneth McKenzie zufolge 79.000 Zivilisten aus Kabul aus, darunter rund 6000 Amerikaner. Nach seinen Worten brachten die USA und ihre Verbündeten gemeinsam mehr als 123.000 Menschen ausser Landes. Die Bundeswehr flog mehr als 5000 aus.

Halten sich die Taliban an Zusagen?

Bei Evakuierungen sind westliche Staaten nach dem US-Abzug jetzt auf Zusammenarbeit mit den Taliban angewiesen. Diese haben zumindest zugesagt, Ausreisen zu gewähren. Aussenminister Maas reist derzeit durch mehrere Nachbarländer Afghanistans, um über die Aufnahme afghanischer Schutzsuchender zu sprechen. Deutschland will mehr als 40 000 Menschen bei der Ausreise unterstützen - auf dem Landweg oder direkt per Flugzeug aus Kabul. Derzeit kann der beschädigte zivile Teil des Flughafens allerdings keine Flüge abfertigen.

Der UN-Sicherheitsrat hatte am Montag mit einer Resolution den Druck auf die Taliban erhöht, die Menschenrechte im Land zu wahren und Ausreisewillige ungehindert passieren zu lassen. Eine UN-Sicherheitszone, die Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ins Spiel gebracht hatte, erwähnt die UN-Resolution aber nicht.

Millionen Hilfsbedürftiger will das Welternährungsprogramm mit Hilfe einer humanitären Luftbrücke versorgen. In Masar-i-Scharif landete am Montag zudem ein Versorgungsflug der Weltgesundheitsorganisation (WHO). In den nächsten Tagen seien zwei weitere Flüge geplant, die auch Kabul anfliegen sollten, sagte eine WHO-Sprecherin in Genf. «Die Armeen sind abgezogen, die Vereinten Nationen bleiben», sagte OCHA-Sprecher Jens Laerke in Genf. Nach UN-Schätzungen sind im Land rund 18,4 Millionen Menschen auf Hilfe angewiesen.

Bewohner Kabuls sprachen am Tag nach dem US-Abzug von einem insgesamt ruhigen Tag. Die meisten Geschäfte im Stadtteil Schahr-e Nau seien geöffnet, sagte etwa Lotfullah, der im Zentrum lebt. Ein paar Banken hätten grosse Filialen nach zwei Wochen wieder geöffnet. Hunderte stünden an, um Geld abzuheben. Viele Taliban seien nicht zu sehen. Ein Bewohner des Stadtteils Dascht-e Bartschi im Westen Kabuls sagte, private und öffentliche Schulen hätten erstmals seit der Taliban-Machtübernahme wieder geöffnet. Alle Schülerinnen und Schüler bis zur sechsten Klasse seien wieder im Unterricht. 

Die Frauenrechtlerin Fausia Kufi forderte von den Taliban, das Land gemeinsam aufzubauen. Der Reichtum Afghanistans sei seine Jugend, Mädchen und Jungen, twitterte sie. «Dieses Land gehört uns allen.»

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