Wie weiter nach dem Brexit? Vier Monate nach dem britischen EU-Austritt herrscht Stillstand bei den Verhandlungen über die künftigen Beziehungen. Kommt jetzt der No-Deal 2.0?
Kurz vor Ende der vierten Verhandlungsrunde über einen EU-Handelspakt mit Grossbritannien hat sich der SPD-Brexit-Experte Bernd Lange pessimistisch geäussert. Foto: Philipp von Ditfurth/dpa
Kurz vor Ende der vierten Verhandlungsrunde über einen EU-Handelspakt mit Grossbritannien hat sich der SPD-Brexit-Experte Bernd Lange pessimistisch geäussert. Foto: Philipp von Ditfurth/dpa - dpa-infocom GmbH

Das Wichtigste in Kürze

  • Wieder nichts.
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Auch nach der vierten Verhandlungsrunde seit dem Brexit sind sich die Europäische Union und Grossbritannien vor allem in einem Punkt einig: Man kommt nicht voran auf dem Weg zu einem Handels- und Partnerschaftspakt.

So verkündeten es am Freitag EU-Unterhändler Michel Barnier und sein britischer Kollege David Frost. Nicht nur der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) ist entsetzt und warnt vor der Gefahr eines harten Bruchs zum Jahresende. Doch noch wird weiter verhandelt und vieles ist noch möglich.

Wie schon drei Mal zuvor seit dem britischen EU-Austritt Ende Januar - immer freitags am Ende jeder Verhandlungsrunde - stand Barnier wieder ernst und streng im Pressesaal der Europäischen Kommission, und wieder hatte er dieselbe Botschaft. «Es ist meine Verantwortung, die Wahrheit zu sagen», sagte der Franzose. «Es gab in dieser Woche keine wesentlichen Fortschritte.» Und er fügte hinzu: «Wir können nicht ewig so weitermachen.»

Noch gilt ja eine Übergangsphase nach dem Brexit, doch bis Ende dieses Jahres muss vor allem der Handel neu geregelt sein, sonst drohen Zölle und Hemmnisse. Aber ein Vertrag ist nicht in Sicht.

Wieder warf Barnier Grossbritannien vor, von bereits im Oktober 2019 vereinbarten Grundsätzen für das geplante Abkommen abzuweichen, auch beim für die EU wichtigsten Punkt: gleiche Wettbewerbsbedingungen, also gleiche Standards bei Steuer, Staatshilfen, Umwelt- und Sozialauflagen. Dabei sei die damals beiderseits akzeptierte Politische Erklärung in allen Sprachen verfügbar, meinte der 69-Jährige sarkastisch. «Sogar in Englisch.» Aus Verhandlungskreisen in London hiess es dazu trocken, man habe wohl ein «leicht unterschiedliches Verständnis» davon, wie wortgetreu die Politische Erklärung in einen Vertragstext zu übertragen sei.

Insgesamt wirkte Barnier mehr als angesäuert und prophezeite: «Wir nähern uns dem Moment der Wahrheit.» Aber aufgeben will er nicht, er erwähnte weitere Verhandlungsrunden im Juni, Juli, August, September. Geklärt werden soll das auf einem Gipfel beider Seiten noch in diesem Monat, vermutlich mit dem britischen Premier Boris Johnson, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratschef Charles Michel.

Der britische Chefverhandler Frost äusserte sich im Vergleich zu Barnier eher undramatisch. «Der Fortschritt bleibt begrenzt», liess er schriftlich wissen. Aber auch er will die Gespräche fortsetzen, «intensiviert und beschleunigt». Dass es nicht vorangeht, schiebt Frost auch auf das Verhandeln per Video. «Wir nähern uns den Grenzen dessen, was durch das Format förmlicher Runden aus der Ferne erreicht werden kann», sagte der Brite. Doch Frost geht es auch ums Inhaltliche: Er hatte kürzlich beklagt, dass er das EU-Mandat seines Gegenübers Barnier als zu enges Korsett empfindet.

London, so scheint es, hofft darauf, dass Johnson mit seinem Charme den gordischen Knoten zerschlagen kann. Das soll möglichst noch im Sommer geschehen, womöglich bereits bei dem geplanten Gipfel. Keinesfalls sollten sich die Verhandlungen bis in den Herbst hineinziehen, bevor ein Durchbruch erkennbar werde, hiess es aus Verhandlungskreisen in London. «Diese Situation können wir nicht zulassen.» Die Wirtschaft brauche bereits früher Gewissheit darüber, wie es nach dem Ende der Übergangsphase weitergehe.

Immer klarer scheint sich aber auch abzuzeichnen, dass die Briten ihre Ambitionen für ein Abkommen mit Brüssel heruntergeschraubt haben. Über die Einführung von Zöllen, beispielsweise bei Agrarprodukten, könne man sprechen, hiess es aus Verhandlungskreisen in London. Längst wird spekuliert, Grossbritannien könne sich von europäischen Lebensmittelstandards lösen, um ein Freihandelsabkommen mit den USA zu ermöglichen.

In Brüssel weckt das alles Frust. Die Grünen-Europaabgeordnete Anna Cavazzini wirft Johnson eine «Erpressungsstrategie» vor. Der CSU-Abgeordnete Markus Ferber meinte: «Wenn das Vereinigte Königreich seine sture Verhandlungsposition nicht langsam anpasst, wird kein Abkommen zustandekommen.» Und der SPD-Brexit-Experte Bernd Lange drohte, eine Beziehung ohne Vertrag wäre auch «kein Weltuntergang».

Die deutsche Wirtschaft sieht allerdings durchaus die Gefahr, dass sie nach der Pandemie zum Jahresende noch einen Rückschlag verkraften müsste. So sieht es auch der Brexit-Experte Fabian Zuleeg vom European Policy Centre in Brüssel: «Wenn wir nicht rasch eine Änderung in der Verhandlungstaktik sehen, müssen wir ein "Cliff-Edge"-Szenario fürchten.»

Es gibt aber auch eine andere Lesart: Eine Einigung sei nicht ausgeschlossen, sagte der deutsche EU-Botschafter Michael Clauss diese Woche. Er stellt sich darauf ein, dass der Brexit wieder Topthema wird während der deutschen Ratspräsidentschaft zwischen Juli und Dezember. Man gehe davon aus, dass es keine Fristverlängerung gebe und dass dann über den Sommer Schwung in die Verhandlungen komme, sagte Clauss. Möglich wäre bis Oktober wohl noch eine Art Rumpfabkommen über einige zentrale Fragen.

Auch dafür müssten aber die Stolpersteine ausgeräumt werden. Dazu zählt neben dem Streit über Wettbewerbsgleichheit auch die Frage, wie viel EU-Fischer künftig in britischen Gewässern fangen dürfen. Weit auseinander liegt man bei dem Punkt, ob bei Streitigkeiten beider Seiten letztlich der Europäische Gerichtshof ein Wort mitreden darf und ob es ein grosses Abkommen geben soll oder viele kleine.

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