Friedensforscher besorgt wegen Trendwende bei Atomwaffen
Das Abrüstungsbild über die Anzahl sei trügerisch. Das sagen frühende Friedensforscher – und warnen.
Das Wichtigste in Kürze
- Weltweit sind mehr Atomwaffen einsatzbereit, als noch vor einem Jahr.
- Die Friedensforscher warnen vor trügerischen Zahlen.
Führende Friedensforscher sehen Anzeichen für eine beunruhigende Trendwende in den weltweiten Beständen an Atomwaffen.
Nach Schätzungen gibt es davon nun noch etwa 13'080. Allerdings sind mehr Atomwaffen einsatzbereit als noch vor einem Jahr. Die Verringerung einsetzbarer Sprengköpfe scheine ins Stocken geraten zu sein, so der Bericht. Gleichzeitig liefen umfassende Programme zur Modernisierung.
Zwar ging die Gesamtzahl der atomaren Sprengköpfe weiter zurück, wie aus dem am Montag veröffentlichten Jahresbericht des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri hervorgeht.
Abrüstungsbild sehe besser aus, als es ist
«Wenn man nur auf die Gesamtzahl der Atomwaffen schaut, sieht das Abrüstungsbild viel besser aus, als es eigentlich ist», sagte Sipri-Experte Matt Korda der Deutschen Presse-Agentur. Die Zahl gehe aber nur deshalb zurück, weil die beiden grössten Atommächte USA und Russland alte Sprengköpfe ausmusterten.
«Und da enden die guten Nachrichten. Sowohl die USA und Russland als auch praktisch jeder andere atomar bewaffnete Staat ist mitten in teuren und umfangreichen nuklearen Modernisierungskampagnen, die mit wachsenden Atomwaffenzahlen in den militärischen Lagern enden.»
Insgesamt verfügten die weltweit neun Atommächte Anfang 2021 schätzungsweise noch über 13'080 Atomwaffen – 320 weniger als im Vorjahr und weniger als ein Fünftel von dem, was zur Hochzeit des Kalten Kriegs Mitte der 1980er Jahre in den Arsenalen war. Die USA kommen heute noch auf 5550 atomare Sprengkörper. Russland hat nach Erkenntnissen der Sipri-Experten noch 6255.
Das beunruhigt die Forscher am meisten
Als besorgniserregend stufen die Forscher jedoch eine andere Zahl ein: die der Atomsprengköpfe, die bereits auf Raketen montiert sind oder sich auf aktiven Stützpunkten befinden. Diese gelten für Sipri als einsatzbereit. Ihre Zahl stieg im Jahresvergleich von 3720 auf 3825. Bei den USA und Russland kamen jeweils rund 50 hinzu. Etwa 2000 dieser Sprengköpfe werden Sipri zufolge in höchster Einsatzbereitschaft gehalten - nahezu alle von Russland und den USA.
Während andere Länder ungeduldig auf Fortschritte bei der nuklearen Abrüstung warteten, investierten alle Atommächte in die langfristige Zukunft ihrer nuklearen Arsenale, sagte Korda. Damit werde die Kluft noch grösser. Der Trend, die Zahlen zu reduzieren und den Atomarsenalen eine geringere Rolle beizumessen, sei nun mutmasslich gestoppt - und in manchen Fällen gar umgekehrt worden.
US-Präsident Joe Biden und Kremlchef Wladimir Putin hatten sich erst kurz vor Auslaufen des atomaren Abrüstungsvertrags New Start im Februar auf eine Verlängerung geeinigt.
Dies sei zwar eine Erleichterung gewesen, so Sipri-Experte Hans M. Kristensen. Die Aussichten auf zusätzliche bilaterale Kontrollen zwischen den beiden nuklearen Supermächten sei jedoch mau. «Sowohl Russland als auch die USA scheinen nuklearen Waffen wachsende Bedeutung in ihren nationalen Sicherheitsstrategien beizumessen.»
Ändert sich die Lage unter US-Präsident Joe Biden?
Sipri-Experte Korda sieht hinter dieser Entwicklung mehrere ineinander greifende Faktoren. Die Modernisierungskurse würden unter anderem durch die derzeitigen Rivalitäten zwischen den Atommächten getrieben.«Wir sehen gerade ein sehr klassisches Verhalten des Wettrüstens.» Die Atomwaffenstaaten betrachteten Abrüstung offenbar nicht als dringende Angelegenheit. Ob sich die Lage unter Biden ändern werde, müsse sich erst noch zeigen.
Washington und Moskau verfügen auch knapp drei Jahrzehnte nach Ende des Kalten Kriegs über mehr als 90 Prozent aller Atomwaffen. Aber auch dahinter tut sich dem Sipri-Jahresbericht zufolge etwas: Alle sieben weiteren Atommächte hätten neue Waffensysteme entwickelt oder stationiert beziehungsweise entsprechende Absichten angekündigt.
China steckt demnach mitten in einer erheblichen Modernisierung und dem Ausbau seines Atomarsenals. Damit etabliert sich Peking mit nun schätzungsweise 350 nuklearen Waffen auf Platz drei der Atommächte, gefolgt von Frankreich (290) und Grossbritannien (225).
Im Gegensatz zu den anderen vier UN-Vetomächten zählt China bei Sipri aber nicht zu den Ländern mit einsatzbereiten Sprengköpfen. Dahinter legen Pakistan (165) und Indien (156) ebenfalls zu, Israel bleibt bei geschätzt 90 Atomwaffen.
«Nukleare Transparenz ist ein Problem»
Hinzu kommt Nordkoreas Arsenal, dessen Zahl nun auf 40 bis 50 geschätzt wird, wegen Unsicherheiten aber nicht zur weltweiten Gesamtmenge dazugezählt wird. Klar ist für Sipri jedoch Folgendes: «Nordkorea priorisiert weiter sein militärisches Atomprogramm als ein zentrales Element seiner nationalen Sicherheitsstrategie.»
Vergangenes Jahr habe Pjöngjang keine Atom- oder Langstreckenraketen im Flug getestet, dafür aber die Entwicklung von Raketen und die Produktion von spaltbarem Material vorangetrieben.
Sipri bezieht seine Daten aus öffentlichen Quellen. Korda wies darauf hin, dass es in den Jahren der Regierung von Biden-Vorgänger Donald Trump zunehmend schwieriger geworden sei, Informationen zum Status der Atomwaffen in der Welt zusammenzutragen. «Die Frage der nuklearen Transparenz ist ein Problem», sagte er.