Polens Grenzschutz: Belarus bereitet Sturm der Grenze vor
Die Lage an der Grenze zwischen Polen und Belarus spitzt sich zu. Warschau erwägt eine Nato-Sondersitzung zu beantragen. Zugleich wecken Lügen bei den gestrandeten Migranten falsche Hoffnungen.
Das Wichtigste in Kürze
- Polens Grenzschutz hat den Sicherheitskräften in Belarus vorgeworfen, die an der gemeinsamen Grenze feststeckenden Migranten auf einen Durchbruch der Sperranlage vorzubereiten.
Bei dem Grenzort Kuznica seien in dem Lager auf der belarussischen Seite viele Zelte verschwunden, schrieben die Grenzer am Sonntag auf Twitter. «Die Ausländer bekommen Instruktionen, Werkzeuge und Tränengas von den belarussischen Sicherheitsorganen.»
Das Verteidigungsministerium teilte mit, die Flüchtlinge hätten Äste aus dem Wald zusammengetragen. Zudem seien viele belarussische Medien präsent. Die polnische Polizei warnte die Migranten per Lautsprecherdurchsagen auf Englisch: «Wenn Sie die Anweisungen nicht befolgen, wird Gewalt angewendet.»
Diese Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen, da Polen in der Grenzregion den Ausnahmezustand verhängt hat. Journalisten und Helfer dürfen nicht hinein. Das gilt auch für das Grenzgebiet auf belarussischer Seite.
Oppositionelle belarussische Telegram-Kanäle veröffentlichten am Sonntagnachmittag Videos, auf denen grössere Migrantengruppen zu sehen sein sollen, die sich der polnischen Grenze nähern. «Es werden immer mehr Migranten», hiess es etwa beim Medium Nexta.
An Polens Grenze zu Belarus harren auf der belarussischen Seite seit mehreren Tagen Tausende Migranten bei Temperaturen um den Gefrierpunkt in provisorischen Camps im Wald aus. Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko wird beschuldigt, in organisierter Form Flüchtlinge aus Krisenregionen an die EU-Aussengrenze zu bringen.
Nato-Sondersitzung?
Wegen der angespannten Lage erwägt Polen nach Angaben von Regierungschef Mateusz Morawiecki gemeinsam mit Litauen und Lettland, eine Nato-Sondersitzung zu beantragen. «Wir diskutieren gemeinsam mit Lettland und besonders mit Litauen, ob man nicht den Artikel 4 der Nato aktivieren soll», sagte Morawiecki am Sonntag der Nachrichtenagentur PAP. Artikel 4 sieht Konsultationen vor, wenn ein Mitglied meint, dass die Unversehrtheit des eigenen Territoriums, die politische Unabhängigkeit oder die eigene Sicherheit bedroht sei.
Konsultationen nach Artikel 4 beantragte zuletzt zum Beispiel die Türkei, als Anfang 2020 türkische Soldaten bei einem Luftangriff in Nordsyrien getötet wurden.
Nicht zu verwechseln ist der Artikel 4 mit Artikel 5. Letzterer regelt, dass ein Angriff gegen einen Nato-Staat als ein Angriff gegen alle angesehen wird. Er sieht zudem vor, dass sich die Nato-Staaten gegenseitig Beistand leisten.
Angesichts der immer grösser werdenden Not der Migranten richten sich die Blicke zunehmend auf Noch-Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Russlands Präsident Wladimir Putin äusserte am Wochenende öffentlich die Erwartung, dass Merkel mit Lukaschenko ins Gespräch kommt.
Im Grenzgebiet wird die Lage immer problematischer. Bei Temperaturen um den Gefrierpunkt harren Tausende seit Tagen auf der belarussischen Seite der Grenze in provisorischen Camps im Wald aus. Polen lässt sie nicht einreisen. Es gab bereits mehrere Todesfälle. Die Europäische Union wirft Lukaschenko vor, in organisierter Form Menschen aus Krisenregionen wie Syrien oder dem Irak an die EU-Aussengrenze zu bringen. Vermutet wird, dass der 67-Jährige sich damit für Sanktionen der EU rächen will.
Putin appellierte an Merkel, jetzt trotzdem den Dialog mit Lukaschenko zu suchen. Im russischen Staatsfernsehen sagte er: «Ich habe es aus Gesprächen mit Lukaschenko und Kanzlerin Merkel so verstanden, dass sie bereit sind, miteinander zu sprechen.» Putin selbst zeigt sich zu einer Vermittlung bislang nicht bereit. Zu seinem neuestem Vorschlag sagte ein Sprecher der Bundesregierung nur: «Über Telefonate informieren wir grundsätzlich, nachdem sie stattgefunden haben.» An diesem Montag ist die Krise Thema bei einem Treffen der EU-Aussenminister.
Bas für europäische Einigung
Die neue Bundestagspräsidentin Bärbel Bas forderte, Europa müsse sich schnell einigen, wie den Migranten geholfen werden könne. Sie würden mit falschen Versprechen an die Grenze gebracht und missbraucht, sagte die SPD-Politikerin den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Für eine harte Linie plädierte Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU). Er sprach sich in der «Bild am Sonntag» gegen eine Aufnahme aus. Die Bilder notleidender Menschen an der Grenze müsse die Gesellschaft aushalten. «Warschau handelt richtig, daher dürfen wir Polen nicht in den Rücken fallen.»
Am Samstagabend durchbrach nach polnischen Angaben bei dem Dorf Dubicze Cerkiewne eine Gruppe von etwa 50 Migranten die Grenze. Die gesamte Gruppe sei dann aber zurückgebracht worden. Einen weiteren, vergeblichen Versuch eines Grenzdurchbruchs soll es unweit des Dorfs Kolonia Klukowicze gegeben haben.
Falsche Meldungen über Transit nach Deutschland
Das Auswärtige Amt in Berlin hat Gerüchten widersprochen, wonach Deutschland einen Transit für die Migranten plane. «Wer immer diese Lügen verbreitet, bringt Menschen in grosse Gefahr», teilte das Ministerium am Sonntag auf Twitter mit.
Zuvor hatte bereits Polen begonnen, die Migranten mit automatisch versandten SMS vor den Gerüchten zu warnen. Unter Migranten kursiere die Nachricht, dass am 15. November Busse aus Deutschland die Flüchtlinge abholen würden und Polen sein Einverständnis zur Durchfahrt gegeben habe, heisst es in der Kurznachricht. «Das ist eine Lüge und Unfug! Polen wird seine Grenze zu Belarus weiterhin schützen.»
Die SMS auf Englisch würden alle erhalten, deren Handys sich im Grenzgebiet in Reichweite des polnischen Mobilfunks befänden, schrieb Innenminister Mariusz Kaminski auf Twitter. Die Kurznachricht enthalte einen Link auf die Webseite seines Ministeriums, wo sich diese Botschaft in fünf Sprachen finde.
Die Aussenminister der EU-Staaten wollen in Brüssel einen Beschluss für ein neues Sanktionsinstrument gegen Fluggesellschaften und andere Beteiligte an illegalen Schleuseraktivitäten fassen. Es soll unter anderem gegen die staatliche belarussische Belavia eingesetzt werden.
Aussenminister Heiko Maas (SPD) drohte allen Fluggesellschaften, die sich am Transport von Flüchtlingen beteiligen, mit dem Entzug von Überflugrechten und Landegenehmigungen in der EU. «Alle Fluglinien sollten dem Beispiel von Turkish Airlines und anderen folgen und sich Lukaschenkos unmenschlichem Geschäft konsequent verweigern», sagte Maas der Funke-Mediengruppe.