Leben in der Geisterstadt

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Deutschland,

Strassen und Plätze: leer. Geschäfte und Lokale: geschlossen. In der Corona-Krise gleichen Deutschlands Metropolen Geisterstädten. Die Menschen kapseln sich ein. Was macht das mit ihnen?

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Der Alexanderplatz in Berlin. Foto: Michael Kappeler/dpa - dpa-infocom GmbH

Das Wichtigste in Kürze

  • Berlin-Alexanderplatz zur Mittagszeit.

Normalerweise herrscht hier ein ziemliches Gewusel. Im Laufe des Tages passieren den Alex 350.000 Menschen, mehr als Bonn Einwohner hat. Jetzt sieht man zur Mittagszeit nur ein paar verstreute Fussgänger in weitem Abstand voneinander.

Corona scheint Deutschlands Städte zu entvölkern. Für viele ist es ein merkwürdiges Gefühl, wenn sie jetzt vor die Tür treten. Ein bisschen wie an einem Sonntag: Kaum Verkehr auf den Strassen, wenig Leute unterwegs. Aber es ist auch wieder anders: Spielplätze sind mit Flatterband abgesperrt. Und manche Läden haben nicht nur geschlossen, sondern auch die Auslagen aus den Schaufenstern geräumt. Sie rechnen offenbar nicht mehr damit, in absehbarer Zeit wieder öffnen zu können.

So drängt sich der Eindruck auf, dass etwas nicht stimmt. Die Situation wirkt irreal - oder «traumartig», ein Begriff den Thomas Mann in «Der Tod in Venedig» verwendet. Die Novelle handelt von einer Cholera-Epidemie, die die Lagunenstadt entvölkert.

«Über verlassene Strassen zu gehen, mag zunächst mal ganz nett sein», meint der Psychologe Winfried Rief von der Universität Marburg. Endlich kein Gedränge mehr. Aber lange könne man das nicht geniessen. Nach einiger Zeit bekomme die unwirkliche Situation etwas Bedrohliches. «Man kennt diese leer gefegten Strassen aus Filmen. Das ist ja auch ein künstlerisches Element. Wahrscheinlich ist die Angst vor der Leere genetisch bei uns eingebaut.» Viele Tiere scheuen instinktiv freie Flächen, weil sie dort keine Deckung haben.

Die teilweise leer geräumten Regale in den Supermärkten verstärken das Gefühl einer Situation, die ausser Kontrolle gerät. «Leere Regale kennen wir nicht mehr», sagt Rief. Ältere Menschen fühlten sich dadurch an die ersten Jahre nach dem Krieg erinnert, als in Deutschland Hunger herrschte.

Zum Glück erlebt man auch Szenen, die eher in eine Komödie als in einen Katastrophenfilm passen würden. Köln, Ebertplatz: Der Lastwagen eines Grosshändlers mit Hygieneartikeln ist vorgefahren. Ein Mitarbeiter trägt eine Palette Toilettenpapier raus. Das fällt natürlich auf in diesen Tagen. Daraufhin warnt er die Passanten: «Ich habe einen Waffenschein!»

Die Leere der Strassen vermittelt das Bild einer ausgestorbenen Stadt, aber dem ist natürlich nicht so: Die Bewohner haben sich in die Häuser zurückgezogen. Manche arbeiten dort genauso weiter wie im Büro, etwa die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker, die für zwei Wochen in Quarantäne ist, weil sie mit einem Corona-Infizierten in Kontakt war. Zu sehen bekommt sie nur noch ihren Mann, und raus geht sie auch nicht mehr: «Obwohl es eigentlich kein Problem wäre, wir haben ja keine Ausgangssperre. Aber Menschen empfinden das zum Teil als Nichteinhaltung der Quarantäne.» Auf den Balkon setzen will sie sich auch nicht: Wenn sie da telefoniert, «hört die halbe Nachbarschaft mit».

Alice Schwarzer hat sich aus ihrer Stadtwohnung in ihr Haus auf dem Land zurückgezogen. «Mich ganz persönlich trifft der Corona-Schock nicht so», sagt die 77 Jahre alte Frauenrechtlerin der Deutschen Presse-Agentur. «Ich stecke eh gerade mitten in einer Buchklausur.»

Andere Menschen haben nicht so viel zu tun und verfolgen stattdessen intensiv die Nachrichtenlage. Im Einzelfall kann sich das belastend auswirken: «Von den Terroranschlägen vom 11. September wissen wir, dass es da Menschen gab, die nur vor dem Fernseher sassen und anschliessend über Symptome einer posttraumatischen Störung geklagt haben», erläutert Professor Rief. «So als hätten sie die Anschläge selbst erlebt. Die permanente Stimulation mit bedrohlichen Situationen kann zu Angstsymptomen und Alpträumen führen.»

Die Erfahrung, dass so etwas wie die Corona-Epidemie überhaupt geschehen kann, erschüttert Grundsicherheiten. Nichts sei mehr so, «wie es vorher war», sagt Bundestrainer Joachim Löw dazu. Es zeigt sich, dass das Zusammenleben fragiler ist, als man bisher gedacht hat. «Die meisten von uns haben in den letzten Jahrzehnten in einem System der Sicherheit gelebt», sagt Rief. «Wir hatten eine stabile Wirtschaft, ein hervorragendes Gesundheitssystem, alles schien unter Kontrolle. Und jetzt hören wir, dass dem einen vielleicht das Beatmungsgerät abgeklemmt wird, um es jemand anderem zu geben. Das ist schockierend.»

Dazu kommt in der Corona-Krise verschärfend hinzu, dass sich viele Menschen nicht mehr direkt mit Kollegen, Freunden oder Verwandten austauschen können. Solche Gespräche sind normalerweise äusserst hilfreich, um das Erlebte zu verarbeiten. Rief drückt es so aus: «Soziale Kontakte sind ein Schutzschild gegen die Härten des Lebens.» Nun aber appelliert selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel an die Bürger, dass «auf Sozialkontakte verzichtet werden soll»». Dies geschieht natürlich mit gutem Grund.

Doch was zur Eindämmung der Epidemie absolut geboten ist, kann für den Einzelnen in der Praxis ein Problem sein. Gerade alte Menschen kennen sich mit sozialen Netzwerken oft nicht aus, sie können nicht whatsappen oder skypen. Für sie kann der Kontakt zur Aussenwelt im Plausch mit dem Bäcker, dem Frisör oder der Nachbarin bestehen. Diese persönliche Begegnung aber ist jetzt unter Umständen tabu. Rief geht deshalb soweit zu sagen: «Es ist nicht nur eine Virusbedrohung, sondern auch eine Bedrohung unseres Menschseins.»

Was in dieser Situation helfe, sei Berechenbarkeit. «Die Politiker sollten zwar unbedingt ehrlich sein, sie sollten wahrheitsgemäss sagen: Das ist jetzt erst der Anfang, wir sind noch lange nicht über den Berg. Aber sie sollten schon auch eine Perspektive aufbauen, im Sinne von: Das Leben geht weiter. Irgendwann haben wir das überstanden.» Henriette Reker gibt den praktischen Rat, einfach mal wieder eine alte Freundin anzurufen, mit der man vielleicht schon lange nicht mehr gesprochen hat. Wann, wenn nicht jetzt, wäre der richtige Zeitpunkt?

Ebenfalls hilfreich ist ein Gefühl der Nähe über Distanzen hinweg. Dafür gibt es glücklicherweise zahllose Beispiele aus ganz Deutschland - etwa Angebote, für kranke oder ältere Nachbarn einkaufen zu gehen oder den Hund auszuführen.

In Köln applaudieren abends um 21 Uhr Menschen auf ihren Balkonen oder in geöffneten Fenstern. Sie wollen damit Zusammenhalt ausdrücken und die Arbeit von Ärzten, Pflegern und anderen Helfern anerkennen. Dabei kommen mitunter auch Nachbarn in Kontakt, die bis dahin gar nichts miteinander zu tun hatten. Sie grüssen sich mit Zurufen oder leuchtenden Handys über die Strasse hinweg. So hat die Krise bei aller Bedrohung auch das Potenzial, Menschen zusammenzuführen.

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