Nachbeben schrecken Menschen in Istanbul auf
Istanbul wird von einer Serie starker Beben erschüttert, die Angst vor dem «Grossen» wächst.

Auch zwei Tage nach dem starken Istanbuler Beben kommt die Erde in der Metropole nicht zur Ruhe. Am frühen Morgen ereigneten sich an einer vor der Stadt gelegenen Plattengrenze weitere Beben mit einer Stärke von bis zu 4,5. Das teilte der Katastrophendienst Afad mit.
Menschen verbrachten erneut die Nacht im Freien – aus Sorge vor einem weiteren, heftigeren Beben, wie verschiedene türkische Medien berichteten.
Am Mittwoch registrierte der Katastrophendienst Afad kurz vor 13 Uhr Ortszeit das bislang stärkste Beben der Stärke 6,2 mit einem Epizentrum im vor der Stadt gelegenen Marmarameer. Zahlreiche weitere Erdstösse der Stärken 4 bis 5 folgten.
Die tickende Zeitbombe
Die Türkei liegt in einer der seismisch aktivsten Gegenden der Welt. Mehr als eine Million Gebäude in Istanbul gelten als nicht erdbebensicher. Laut Experten gilt zudem ein Beben der Stärke 7 als überfällig.
Das Beben von Mittwoch habe dies nun noch mal wahrscheinlicher gemacht, sagte Marco Bohnhoff vom GFZ Helmholtz-Zentrum für Geoforschung in Potsdam.
Im vor der 16-Millionen-Stadt gelegenen Marmarameer verläuft eine aktive Plattengrenze, die Nordanatolischen Verwerfung. Istanbul selbst gilt als besonders gefährdet, da sich die Verwerfung nur etwa 15–20 km südlich der Stadt entlangzieht.
Nicht nur Gebäudesubstanz macht Erdbeben so gefährlich
Istanbulerinnen und Istanbuler machen fast 20 Prozent der türkischen Bevölkerung aus. Um die Metropole dauerhaft sicherzumachen, fordern zahlreiche Stimmen aus der Politik mehr Massnahmen – und prangern fehlende Bemühungen vonseiten der Regierung an.
Ein Politiker der nationalkonservativen Oppositionspartei Iyi sagte im Parlament mit Blick auf die schlechte Vorbereitung der Stadt, die Menschen würden «in Särgen und nicht in Wohnungen» leben. Der politische Analyst Levent Gültekin kritisierte in einem Video: «Wir warten auf das Erdbeben wie die Schafe auf die Schlacht.»
Nicht nur die Gebäudesubstanz ist ein grosses Risiko in der Metropole. In der Stadt fehlt es etwa auch an Evakuierungsplanung und -infrastruktur sowie an Aufklärung der Öffentlichkeit. Auch Mängel bei der Bauaufsicht und Korruption sind weit verbreitet. Zudem wurden in der Vergangenheit immer wieder – und nicht nur in Istanbul – Tausende illegal errichtete Gebäude nachträglich über Baumamnestien legalisiert.
Zahlreiche Menschen verliessen wegen der Erdbeben und der Angst vor weiteren zumindest vorübergehend die Stadt. Doch die Option haben nicht alle. Das Land plagt eine starke Wirtschaftskrise, der starke Anstieg der Preise etwa von Lebensmitteln hat viele Menschen nicht nur in Istanbul in die Armut gedrängt.
Erdbeben konkurriert mit anderen Krisen im Land
Für viele in der Stadt rückt die Erdbebengefahr auch wegen zahlreicher anderer politischer Krisen im Land in den Hintergrund – etwa das Verfahren gegen den inhaftierten und abgesetzten Istanbuler Bürgermeister, Prozesse gegen protestierende Studierende oder gesellschaftlich umstrittene Regelungen wie die teilweise Einführung eines Kaiserschnittverbots.