Nawalny 100 Tage in Haft: Seiner Bewegung droht das Verbot
Fast 100 Tage ist der Kremlgegner Nawalny seit seiner Rückkehr aus Deutschland in Haft. Aus einem langen Hungerstreik steigt er aus. Nun soll aber seine politische Bewegung ausgelöscht werden.
Das Wichtigste in Kürze
- Auf eine neue wochenlange Tortur stellt sich der im Straflager inhaftierte Kremlgegner Alexej Nawalny für seinen Ausstieg aus dem Hungerstreik ein.
«In der Regel dauert das auch 24 Tage und das ist, so heisst es, sogar schwieriger. Also wünscht mir Erfolg», teilt er in seiner neuen Mitteilung bei Instagram mit. An diesem Montag (26. April) ist es 100 Tage her, dass Nawalny aus Deutschland, wo er sich von einem Mordanschlag mit dem Nervengift Nowitschok erholt hatte, nach Russland zurückkehrte. Noch am Flughafen in Moskau wurde der 44-Jährige am 17. Januar festgenommen.
An diesem Montag beginnt auch ein Gerichtsverfahren, mit dem die russische Justiz alles zerstören will, was Nawalny und seine gegen Korruption gerichtete Bewegung in Jahren aufgebaut haben. Die Moskauer Staatsanwaltschaft will Nawalnys Organisationen, darunter seine Anti-Korruptions-Stiftung und seine Regionalstäbe, als extremistisch einstufen und damit praktisch verbieten lassen.
Die Bewegung, so die Ankläger, «destabilisiert die gesellschaftlich-politische Lage im Land». Sie rufe auf zur «extremistischen Tätigkeit, zu Massenunruhen - auch mit Versuchen, Minderjährige in gesetzeswidrige Handlungen zu verwickeln». Beschuldigt werden die Organisationen, sie handelten «im Auftrag verschiedener ausländischer Zentren, die destruktive Handlungen gegen Russland ausführen». Das angebliche Ziel: eine Revolution, um den Machtapparat des Kremlchefs Wladimir Putin zu stürzen.
Nawalnys Sprecherin Kira Jarmysch, die im Arrest sitzt und die Unterlagen sichtete, betont, dass die Anschuldigungen haltlos und nicht durch einen einzigen Beweis belegt seien. Wie das Wegsperren Nawalnys als Anführer der Bewegung und seiner vielen Mitarbeiter diene auch dieser Willkürprozess vor Gericht dem einzigen Ziel, die Opposition auszulöschen.
Vor der Parlamentswahl am 19. September steht der Machtapparat mit der Kremlpartei Geeintes Russland in der Kritik, jede Form von Protest zu zerschlagen und Andersdenkende zu kriminalisieren. Zwar ist Nawalnys Bewegung nicht als Partei zugelassen. Die Strukturen seiner vielen regionalen Stäbe funktionieren aber ähnlich und kümmern sich auch um Probleme von Bürgern. Deshalb rechnen sich einzelne seiner Mitarbeiter als unabhängige Kandidaten bei der Wahl Chancen aus. Eine Herausforderung, gegen die Staatsmedien, Justiz und die etablierten politischen Kräfte mit aller Wucht vorgehen.
Als der Nawalny-Mitarbeiter Sachar Sarapulow in der sibirischen Metropole Irkutsk gerade erklärte, für die Duma-Wahl kandidieren zu wollen, bekam er prompt Besuch von der Polizei, die das Büro des Oppositionellen durchsuchte. Ähnlich ergeht es Nawalnys prominenter Moskauer Mitarbeiterin Ljubow Sobol, die sich immer wieder mit Gerichtsverfahren sowie Arrest- und Geldstrafen konfrontiert sieht.
Wenn nun die Bewegung Nawalnys als extremistisch eingestuft und unter Androhung jahrelanger Haftstrafen verboten wird, dann gilt das als bisher schwerster Schlag überhaupt gegen die Oppositionsarbeit. Damit werde die Tätigkeit auf dem Gebiet Russland einschliesslich der Informationsarbeit im Internet quasi unmöglich, sagt die Politologin Tatjana Stanowaja. Bei Instagram und Twitter etwa erreicht die Marke Nawalny Millionen Menschen. Schon jetzt versuchen die russischen Behörden immer wieder, missliebige Inhalte im Internet zu blockieren.
«Das ist bisher die einzige gegen Putin gerichtete Opposition, die nicht marginal ist», sagt Stanowaja. Der «Nawalnyismus» werde jetzt kriminalisiert. Die Bewegung in ihrer bisherigen Form höre auf zu existieren. Aber die Sympathien für Nawalny sowie die Proteststimmung im Land kämen durch das Extremismusverfahren nicht zum Erliegen. «Das bringt die Bewegung nicht um.» Es werde etwas Neues entstehen, meint die Expertin. Durch seine Rückkehr habe Nawalny Pläne des Kremls vereitelt, ihn zum bedeutungslosen Politemigranten zu machen.
Aus dem Ausland können zudem führende Köpfe der Bewegung wie Leonid Wolkow, Iwan Schadnow und Maria Pewtschich (Pevchikh) weiter arbeiten und die populären Videos mit Enthüllungen von Korruption in Putins Machtapparat im Internet veröffentlichen. Von dort gibt es auch weiter Aufrufe an die russische Bevölkerung nicht nur zu Protesten. Vor allem sind die Bürger aufgerufen, bei der Abstimmung im Herbst für einen beliebigen Kandidaten zu stimmen - nur nicht für jenen der Kremlpartei. Das «schlaue Abstimmen» soll das Machtmonopol brechen.
Erreicht hat Nawalny mit seiner Inhaftierung auch internationale Aufmerksamkeit für die zunehmenden Repressionen in Russland. Seine Vergiftung mit dem chemischen Kampfstoff Nowitschok hat das Land mit neuen Sanktionen unter Druck gesetzt. Die EU und die USA fordern vom Kreml weiter eine Aufklärung des Verbrechens. Vor allem aber die internationale Solidarität, die Appelle von Weltstars an Putin, seinen Gegner freizulassen, und die Strassenproteste haben dazu geführt, dass sich die russische Führung fast täglich mit Nawalnys Schicksal befassen muss.
Nawalny bedankte sich nun für die breite Unterstützung «im ganzen Land und in der Welt». Die Solidarität und sein Hungerstreik hätten bewirkt, dass der Strafvollzug nach langer Weigerung zwei zivilen Ärztegruppen den Zugang zu ihm gewährt habe. «Das ist ausschliesslich Euer Verdienst!» Ein «Fortschritt». Er habe deshalb nun dem Rat der Ärzte, denen er vertraue, befolgt - und wolle den Hungerstreik wegen der unmittelbaren Gefahr zu sterben beenden. Zugleich betonte Nawalny, seine Forderung, wegen eines Rückenleidens und Taubheit in den Gliedmassen von Spezialisten behandelt zu werden, bleibe bestehen.