Oktoberfest: Schweizer in Lederhosen – kulturelle Aneignung?
Zahlreiche ausländische Gäste tragen am Münchner Oktoberfest traditionelle bayrische Kleidung. Ist das problematisch? Experten ordnen ein.
Das Wichtigste in Kürze
- Dirndl und Lederhose sind von Oktoberfesten nicht wegzudenken – auch bei Nicht-Bayern.
- Experten erklären, wie das Phänomen in Bezug auf die kulturelle Aneignung einzuordnen ist.
- Entscheidend ist dabei, wie die Macht verteilt ist.
An Oktoberfesten feiern viele Besucher mit Dirndl und Lederhose. Die Mega-Party in München ist zwar am Dienstag zu Ende gegangen. Aber es stehen dafür einige Schweizer Oktoberfeste an.
Am Zürcher Hauptbahnhof, auf dem Bauschänzli, in Thun BE und an vielen anderen Orten: Schweizer tragen gern das traditionelle bayrische Outfit.
Doch ist es überhaupt in Ordnung, als Nicht-Bayer für ein Oktoberfest in die fremde Tracht zu schlüpfen? Beispiele wie das Indianer-Kostüm oder die Rasta-Locken zeigten bereits: Nicht immer kommt das bei der Ursprungskultur gut an.
Es kommt auf das Machtgefälle an
Im Falle des Oktoberfests gibt Soziologe Hanno Scholtz von der Universität Zürich aber Entwarnung. Auf Anfrage von Nau.ch sagt er: «Die Beurteilung ist vom Selbstverständnis der Bayern abhängig.»
Scholtz glaubt, dass auch bekannte Gesichter aus Bayern kaum Probleme damit hätten: Edmund Stoiber oder Markus Söder beispielsweise würden diese «kulturelle Aneignung» wohl eher mit «gelassenem Stolz» betrachten.
Will heissen: Die Bayern dürften eher stolz darauf sein, wenn jemand ihr Outfit trägt.
Die Münchner Oktoberfest-Organisation bestätigen diese These auf Anfrage von Nau.ch: «Nach unserer Beobachtung freuen sich Einheimische darüber, wenn Gäste aus aller Welt bayrische Tracht tragen.» Alle Gäste seien willkommen und könnten in der Kleidung feiern, in der sie sich am wohlsten fühlten.
Problematisch ist es erst, wenn ein Machtgefälle herrscht, wie Scholtz erklärt: «Angehörige mächtiger Gruppen nehmen Angehörigen ohnmächtiger Gruppen ‹auch noch› ihre Möglichkeiten authentischer Selbstexpression weg.»
Aufs Oktoberfest übertragen heisst das laut Scholtz: Falls sich die Bayern in Deutschland als machtlose Bewahrer ihrer Kultur gegen eine protestantische Mehrheit sehen, wäre es problematisch. Aber das ist wie – oben ausgeführt – nicht der Fall.
Tracht an Oktoberfest eine späte Erfindung
Soziologe Armin Nassehi von der Universität München geht sogar noch einen Schritt weiter. «Ehrlich gesagt, halte ich das ganze Konzept der ‹kulturellen Aneignung› für mindestens zweifelhaft», sagt der Experte.
Seine Erklärung: Kulturelle Aneignung setze voraus, dass bestimmte kulturelle Symbole nur bestimmten Gruppen zugänglich sein sollten. Nassehi hält das für naiv, denn: «Kultur ist stets das Ergebnis von Aneignung gewesen.»
Was das Oktoberfest betrifft, sei die Tracht sowieso eine eher späte Erfindung. «Seit etwa 15 bis 20 Jahren wird sie in den Markt gedrückt. Ich würde das als eine Umwandlung von traditionellen Formen in eine popkulturelle Form nennen.»