Rechtsextremismus-Forscher zum Mord an Walter Lübcke
Ein deutscher Politiker wurde mit einem Kopfschuss ermordet. Ein Rechtsextremer ist geständig. Politikwissenschaftler Reiner Becker im Gespräch.
Das Wichtigste in Kürze
- In Deutschland wurde ein Politiker erschossen.
- Mehr und mehr zeichnet sich das Bild einer rechtsextremen Szene.
- Der Politologe Reiner Becker gibt eine Einschätzung.
Anfang Juni wurde in Deutschland der CDU-Politiker Walter Lübcke erschossen. 2015 wurde der Regierungspräsident im Regierungsbezirk Kassel (D) bekannt, da er sich für Flüchtlinge engagierte und sich gegen die fremdenfeindliche Pegida stellte.
Der mutmassliche Mörder befindet sich in Haft. Es handelt sich um den Rechtsextremisten Stephan E. Doch die Ermittlungen gehen weiter. Zwei weitere Personen wurden festgenommen. Einer soll dem Hauptverdächtigen die Waffe besorgt haben.
Der Fall wirft ein Licht auf die gewaltbereite, rechtsextreme Szene in Deutschland. Der Politikwissenschaftler Reiner Becker von der Uni Marburg forscht zu Rechtsextremismus und spricht mit Nau über die Lage in Deutschland.
Nau.ch: Kann man sagen, dass rechtsextreme Strukturen in Deutschland tendenziell eher zu wenig beachtet wurden?
Reiner Becker: Der springende Punkt ist, dass sich die Strukturen verändert haben. Früher, in den 2000er Jahren beispielsweise, gab es sichtbare Strukturen wie etwa die Freien Kameradschaften. Heute sind die Gruppen weniger klar definiert, also etwa Teil von Kampfsport- oder Hooligangruppen oder der Pegida. Zudem werden die Strukturen dezentraler organisiert, etwa via soziale Medien.
Nau.ch: Hat dieser Vorfall – etwa im Vergleich zu den NSU-Morden – eine stärkere Signalwirkung?
Becker: Bedauerlicherweise ja. Der NSU konnte zehn Jahre lang unerkannt morden. Die Mehrheitsgesellschaft hat bis zur Selbstenttarnung der Beteiligten die Terrorgruppe wenig wahrgenommen. Jedoch haben türkische Migranten bereits früh darauf hingewiesen, dass fremdenfeindliche Motive möglich sind. Aber die Sicherheitsbehörden sind gescheitert, Taten des NSUs wurden von der Presse als Dönermorde deklariert. Der Mord an Lübcke trifft eine vermeintliche Mitte der Gesellschaft, deswegen ja, er hat eine stärkere Signalwirkung.
Nau.ch: Wie ist die Rolle des Verfassungsschutzes zu bewerten – hat dieser die Problematik verschlafen?
Becker: Das kann man nicht abschliessend beurteilen. Aber einer der weiteren Verdächtigen tauchte bereits im Umfeld des NSU auf und war den Sicherheitsbehörden bekannt. Jedoch wurde bei den Behörden nach dem NSU einiges verändert. Zudem beobachten wir, dass Personen, die in den jungen Jahren rechtsextrem waren, sich nach einer Ruhezeit wieder in Erscheinung treten. Die waren nicht mehr auf dem Schirm der Behörden.
Nau.ch: Im Bundestag wurde gestern Donnerstag, etwa von Sigmar Gabriel, der AfD vorgeworfen, eine Mitverantwortung für die Tat zu haben. Was ist Ihre Meinung dazu?
Becker: Ich kann die Kritik an der AfD nachvollziehen. Sprache formt den politischen Raum, und die Sprache einiger AfD-Politiker ist verroht. Jedoch kann man keine direkte Linie zwischen Sprache und Gewalt ziehen. Wenn man verallgemeinert, etwa bei der AfD, dann löst dies kein Problem. Man muss die Themen der Partei annehmen, ohne diese von rechts überholen zu wollen. Jedoch muss man auch sehen, dass AfD-Politiker Profis sind, und die Sprache bewusst einsetzen.
Nau.ch: Wie müssen Staat und die Gesellschaft nun reagieren, dass sich solche Fälle nicht wiederholen?
Becker: Zum einen müssen die Sicherheitsbehörden die Sicherheit der Kommunalpolitiker überprüfen. Viele Bürgermeister wurden schon in der Vergangenheit bedroht. Die Politik muss selbstkritisch sein, und der sprachlichen Verrohung keinen Vorschub leisten. Zudem müssen Staat und Zivilgesellschaft Gesprächsebenen finden. Ich hoffe zudem, dass das Thema nicht wieder schnell verfliegt – das wäre schlecht. Man muss den Mord ernst nehmen.