Studie zu Grossstadtkindern: Generation Rücksichtslos?
Das Wichtigste in Kürze
- Am Ende eines Schulhofstreits in Berlin fliesst Blut: Ein achtjähriger Junge hat seinem gleichaltrigen Freund das Gesicht zerkratzt.
Noch zwei Wochen später sagt er: «Tut mir überhaupt nicht leid.»
Wird die nächste Generation rücksichtloser? Wissenschaftler der Universität Bielefeld haben sich in Berlin, Köln und Leipzig bei rund 1000 Grossstadtkids und ihren Eltern umgehört. Ein Fünftel der Kinder und ein Drittel der Teenager zeigt danach wenig Gemeinschaftssinn, vor allem die Jungs, heisst es in der Untersuchung, die am Dienstag in Berlin vorgestellt wurde. Ist das neu?
Harte Sprüche und manchmal Prügel. «Der ganze Schulhof funktioniert so», seufzt ein Schülerhelfer in Berlin-Neukölln. Trotzdem hofft er, dass sein kratzender Schützling ein Extrembeispiel bleibt. Die beruhigende Nachricht lautet: Ja, das ist es. Denn nach der neuen Grossstadt-Studie im Auftrag der Bepanthen-Kinderförderung tickt die grosse Mehrheit (70 bis 80 Prozent) der befragten 6- bis 11-jährigen Kinder und 12- bis 16-jährigen Jugendlichen sozial. Mädchen zeigten sich dabei allerdings durch die Bank doppelt so häufig empathisch und solidarisch wie Jungen.
Geschulte Interviewer haben Kinder und Teenager für die Studie in persönlichen Interviews zu den Bereichen Empathie, Solidarität, Gleichgültigkeit und Abwertung befragt. Dafür gaben sie für zwei Altersgruppen Aussagen vor, denen Kinder und Jugendliche zustimmen konnten - oder auch nicht. Sie lauteten zum Beispiel: «Es macht mich traurig, wenn es anderen Kindern schlecht geht», «Wenn ein anderes Kind Probleme in der Schule hat, ist es meistens selber schuld», «Man kann Deutschen eher vertrauen als Ausländern» oder «Hartz-IV-Empfänger sind deshalb arm, weil sie nicht arbeiten wollen.»
Für Studienautor Holger Ziegler ergeben die vier abgefragten Felder in der Summe einen Hinweis auf Gemeinschaftssinn. Er sieht ihn als moralischen Kitt für eine Gesellschaft. Die Ergebnisse, die er nur für deutsche Grossstädte als repräsentativ wertet, stimmen ihn nachdenklich. Denn jedem vierten Jungen im Kindes- und Jugendalter waren Probleme anderer Menschen egal. Im Vergleich zeigte sich nur jedes achte Mädchen so gleichgültig. Noch mehr Sorgen machen Ziegler Tendenzen, andere Gruppen und Schwächere abzuwerten. Dazu neigte laut Studie mehr als ein Drittel der Jungen (36 Prozent) und ein gutes Fünftel der Mädchen (22 Prozent).
«Ob diese Abwertung zunimmt oder abnimmt, können wir nicht sagen, weil es zu wenig Vergleichsdaten gibt», sagt Ziegler. Ihn bewegt etwas anderes. «Die Abwertung von Ausländern, Arbeitslosen, Schwulen, Behinderten oder Obdachlosen ist auch dort verbreitet, wo wir sie nicht unbedingt vermuten: bei einem guten Fünftel der liberal-urbanen Mittelschicht», berichtet er. «Und das schwappt sehr stabil von Eltern auf Kinder über. Besonders auf die Jungs.»
Da sich ohnehin nur Mittelschichts-Familien bereit erklärten, für die Studie zu Hause Fragen zu beantworten, könnte dieses Bild sogar noch zu rosa gefärbt sein, schätzt der Wissenschaftler. «Wir hatten bei den Eltern zum Beispiel keine AfD-Wähler dabei.»
Jugendforscher Klaus Hurrelmann, Mitautor der renommierten Shell-Jugendstudien, überraschen oder sorgen die neuen Ergebnisse nicht. «Die Shell-Studien zeigen regelmässig, dass es eine 80 zu 20 Trennung in der Gesellschaft gibt», sagt er. Das sei auch vergleichbar mit Jugend-Daten anderer Länder. «Aber bei Erwachsenen in Deutschland haben in den vergangenen 20 Jahren Belege für weniger Gemeinschaftssinn zugenommen, weil sie ihr soziales Sicherheitsgefühl beeinträchtigt sehen», ergänzt er. Eine Partei wie die AfD springe darauf an.
Für Jugendliche gebe es bisher jedoch keine Hinweise darauf, dass eine Rechtsorientierung oder Sympathien mit der AfD zunähmen. «Junge Leute sind toleranter als Ältere. Sie haben auch längst nicht so viel Angst vor Heterogenität und Diversität in einer Gesellschaft, weil sie damit gross werden.»
Forscher Ziegler ist nach Auswertung seiner Studie weniger optimistisch. Der grosse Unterschied beim Gemeinschaftssinn von Jungen und Mädchen ist für ihn ein Zeichen dafür, dass die Geschlechterfrage beim Wunschbild für demokratische Tugenden noch lange nicht geklärt sei. Ziegler hadert vor allem mit klassisch-egozentrischen Männlichkeitsbildern, die er auch in der befragten liberalen städtischen Mittelschicht weit verbreitet sieht.
«Es ist die Frage, wie stark wir solche Männlichkeits-Codes in den Mittelpunkt rücken», sagt er. So werde zum Beispiel der reine Leistungsaspekt an Schulen heute stärker betont als die Anerkennung von empathischem oder solidarischem Verhalten: «Wer es schafft, hat es drauf. Wer nicht, ist ein Loser, zu dumm und unfähig.» In der Grossstadt-Umfrage neigten dann vor allem Jungen, die selbst nicht besonders erfolgreich waren, verstärkt zum Mobben anderer, vermeintlich noch Schwächerer.
«Gerade für Jungen ist ein Umfeld, das Abwertung nicht zulässt, enorm wichtig», sagt Ziegler. Dazu zählt er zum Beispiel prosoziale Vereine und Jugendclubs, wenn zu Hause und im Freundeskreis Fehlanzeige herrsche. Mädchen zeigten sich dagegen weitaus unabhängiger von der Meinung im Elternhaus oder ihrer Clique. «Was sie selbst subjektiv als ungerecht wahrnahmen, machte sie solidarischer mit anderen.» Mit einer durchweg engagierten und sozial eingestellten Fridays-For-Future-Generation rechnet Ziegler nach seiner Studie zumindest nicht. «Wir sehen hier den Nachwuchs der liberalen Mittelschicht - und auch ihren Hang zu Ressentiments.»