Ukraine hofft nach Raketenattacke auf Hilfe von aussen
Nach dem schwersten russischen Luftangriff auf Kiew in diesem Jahr hofft die Ukraine auf verstärkte internationale Unterstützung.
Die Ukraine hofft nach dem folgenschwersten russischen Luftangriff auf Kiew in diesem Jahr auf mehr internationale Unterstützung. «Wir arbeiten weiter am Schutz unserer Städte und Gemeinschaften vor dem russischen Terror», schrieb Präsident Wolodymyr Selenskyj im sozialen Netzwerk X. Er danke allen ausländischen Politikern, die neue Schritte zum Schutz der Ukraine vorbereiteten.
Die Vereinten Nationen rückten den Luftangriff in einer Dringlichkeitssitzung des Sicherheitsrats in die Nähe eines Kriegsverbrechens. «Ich möchte diesen Rat daran erinnern, dass Spitäler nach dem humanitären Völkerrecht besonderen Schutz geniessen. Vorsätzliche Angriffe auf ein geschütztes Spital sind ein Kriegsverbrechen und die Täter müssen zur Rechenschaft gezogen werden.»
Dies sagte Joyce Msuya, die amtierende Chefin des UN-Nothilfebüros Ocha, vor dem Weltsicherheitsrat in New York. Weil Russland im Weltsicherheitsrat Vetorecht besitzt, ist ein Vorgehen des mächtigsten UN-Gremiums gegen Moskaus Aggression ausgeschlossen. Zugleich soll es beim Jubiläumsgipfel der Nato in Washington darum gehen, wie der Ukraine besser geholfen werden kann.
Mehr als 40 Tote landesweit
Die Zahl der Toten in der ukrainischen Hauptstadt durch den Angriff vom Montagvormittag stieg nach letzter Zählung auf 31. Dazu habe es 117 Verletzte gegeben. Ähnlich schwer mit mindestens 32 Toten war Kiew zuletzt kurz vor dem Jahreswechsel getroffen worden.
Landesweit hatte die Ukraine durch die jüngste Angriffswelle mindestens 42 Tote und 190 Verletzte zu beklagen. In Kiew war für heute ein Trauertag angesetzt. An dem grossen Kinderspital Ochmatdyt (Schutz von Mutter und Kind) mit seiner völlig zerstörten Fassade wurden nach über 24 Stunden die Rettungsarbeiten eingestellt.
Hunderte Retter, Mediziner und Freiwillige hatten bis zur Erschöpfung in den Trümmern nach Opfern gesucht. Am Montag sassen gerettete krebskranke Kinder an Infusionsgeräten auf dem Schoss ihrer Mütter auf der Strasse. In der Klinik wurden zwei Erwachsene getötet, darunter eine Ärztin.
Moskau widerspricht Version eines Treffers
Die Ukraine geht von einem gezielten Angriff aus. Nach Angaben aus Kiew sollen Videobilder den durch nichts gehinderten Anflug eines Marschflugkörpers Ch-101 auf das Gebäude zeigen. Das russische Militär spricht dagegen ohne Beweise vom Fehleinsatz einer ukrainischen Luftabwehrrakete. Kremlsprecher Dmitri Peskow forderte, dass die Öffentlichkeit sich an diese Version halten solle.
«Wir verüben keine Schläge gegen zivile Ziele. Schläge gibt es nur gegen Objekte der kritischen Infrastruktur oder militärische Ziele», sagte er der Agentur Tass zufolge. Auch die Sprecherin des russischen Aussenministeriums, Maria Sacharowa, behauptete, das Spital sei von einer Nasams-Flugabwehrrakete der Ukraine getroffen worden.
Russland hatte am Montag Kiew, Krywyj Rih, Dnipro und andere Städte mit knapp 40 Raketen und Marschflugkörpern beschossen. Das Kinderspital wurde nach vorläufigen Untersuchungen des UN-Menschenrechtsbüros von einer russischen Ch-101 direkt getroffen. Die Experten hätten Videoaufnahmen ausgewertet und die Schäden vor Ort direkt untersucht, sagte Danielle Bell, die Leiterin der Beobachtermission für Menschenrechte der Vereinten Nationen in der Ukraine. Sie nennt dies «einen der ungeheuerlichsten Angriffe, die wir seit Beginn der Invasion erlebt haben».
Angriff international scharf kritisiert
Alle 600 dort stationär behandelten Kinder seien in andere Gesundheitseinrichtungen gebracht worden. Das Spital, in dem viele Kinder mit Krebs und anderen schweren Krankheiten behandelt wurden, sei schwer beschädigt worden und könne ohne erhebliche Reparaturen nicht mehr genutzt werden. International wurde der Angriff scharf kritisiert.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) nannte ihn ein Kriegsverbrechen. Deutschland wird einige der kranken ukrainischen Kinder zur Weiterbehandlung aufnehmen. In einem zerstörten Wohnhaus in der Nähe der Kiewer Klinik wurden durch den Luftangriff sieben Menschen getötet, darunter drei Kinder.
Ein Junge wurde dort in der Nacht tot geborgen. Zwei Menschen starben in einer nicht näher bezeichneten Industrieanlage. Inoffizielle Berichte gehen von Angriffen auf ein Rüstungsunternehmen aus. In einem weiteren teilweise zerstörten Spital kamen neun Menschen ums Leben, in einem Geschäftszentrum sieben Menschen.
Ukraine schickt Schwärme von Kampfdrohnen nach Russland
Die Ukraine reagierte mit verstärkten Drohnenangriffen auf den schweren russischen Raketenbeschuss. Ganze Drohnenschwärme erreichten Gebiete in Russland. Ein Tanklager des Ölkonzerns Lukoil im Gebiet Wolgograd wurde dadurch in Brand gesetzt. Gebietsgouverneur Andrej Botscharow machte dafür Trümmer abgeschossener Drohnen verantwortlich – diese seien auf das Lager in der Stadt Kalatsch am Don gefallen.
Das russische Verteidigungsministerium teilte mit, in der Nacht zum Dienstag seien 38 ukrainische Kampfdrohnen über den Gebieten Belgorod, Kursk, Woronesch, Rostow und Astrachan abgefangen worden. Auf den Verkehrsflughäfen von Wolgograd und Astrachan konnten vorübergehend keine Flugzeuge starten oder landen.
Die Ukraine verteidigt sich seit zwei Jahren gegen eine russische Invasion. Weil ihr schwere Distanzwaffen fehlen, versucht sie diesen Mangel durch gezielte Drohnenangriffe wettzumachen. Die angerichteten Schäden stehen aber in keinem Verhältnis zu den verheerenden Folgen russischer Bombardements auf die Ukraine.
Scholz sagt der Ukraine Unterstützung zu
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sagte der Ukraine erneut langfristige Unterstützung gegen den russischen Angriffskrieg zu. «Und es ist gut, dass wir das in den letzten Tagen noch einmal verstärkt haben mit einer ganz klaren Botschaft: Wir werden der Ukraine so lange beistehen, wie das erforderlich ist», sagte Scholz in Berlin vor seiner Abreise zum Nato-Gipfel in Washington.
Er verwies auf Waffenlieferungen und die gemeinsame Initiative der wichtigsten Industriestaaten. Die G7-Staaten hatten sich bei ihrem Gipfel in Italien darauf verständigt, mithilfe von Zinsen aus eingefrorenem russischen Staatsvermögen ein Kreditpaket im Umfang von etwa 50 Milliarden US-Dollar (etwa 47 Mrd. Euro) zu finanzieren.