Forschende bestimmen Reproduktionszahl mithilfe von Abwasserproben
Laut ETH-Forschenden würden sich Daten aus dem Abwasser für eine schnelle und kostengünstige Schätzung der Reproduktionszahl eignen.
Das Wichtigste in Kürze
- Mit der Reproduktionszahl lässt sich die Dynamik einer Krankheitswelle abschätzen.
- Forschende der ETH Zürich haben nun eine neue Messungs-Methode vorgestellt.
- Demnach kann die Zahl mithilfe von Abwasserproben nahezu in Echtzeit abgeschätzt werden.
Messungen von Sars-CoV-2 im Abwasser können dazu dienen, die effektive Reproduktionszahl nahezu in Echtzeit abzuschätzen. Der Vorteil: Verzerrungen aufgrund von unterschiedlichen Teststrategien oder Meldeverzögerungen fallen weg.
Die Reproduktionszahl R gibt an, wie viele Personen eine infizierte Person im Durchschnitt ansteckt. Anhand dieses Indikators lässt sich die Dynamik einer Krankheitswelle abschätzen und die Notwendigkeit sowie Wirksamkeit von Massnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus abschätzen.
Schätzungen bislang anhand klinischen Daten
Bislang basieren die Schätzungen zum aktuellen R-Wert auf klinischen Daten - wie Fallzahlen, Hospitalisierungen oder Todesfällen. Ein Schweizer Forschungsteam um Jana Huisman von der ETH Zürich berichtet nun in einer noch nicht von unabhängigen Fachkollegen begutachteten Studie, dass sich Daten aus dem Abwasser für eine schnelle und kostengünstige Schätzung dieses Werts eignen würden.
Im Zuge der Corona-Pandemie haben verschiedene Studien weltweit nachgewiesen, dass die Konzentrationen der aus dem Abwasser gefischten Erbbruchstücke des Coronavirus mit klinischen Fallzahlen korrelieren. Die Forschenden um Huisman gingen nun einen Schritt weiter und entwickelten ein mathematisches Modell, um die Reproduktionszahl mithilfe des Abwassers abzuschätzen.
«Anhand der Virenlast, die wir im Abwasser messen, können wir schätzen, wie viele Personen vom Virus infiziert sind, und die Dynamik über die Zeit verfolgen», erklärte Huisman in einer Mitteilung des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) vom Mittwoch. Damit liesse sich der R-Wert bestimmen.
Abwasser-R-Wert in sechs Kläranlagen
Das Team testete seinen Ansatz für zwei Kläranlagen, in der ARA Zürich-Werdhölzli sowie im kalifornischen San Jose (USA). Vorausgesetzt die Beprobung finde mindestens dreimal pro Woche statt, böten Abwassermessungen eine unabhängige Methode, um die Krankheitsdynamik zu verfolgen, lautet das Fazit der Forschenden.
Inzwischen verfolge man den Abwasser-R-Wert in sechs Kläranlagen in der Schweiz, sagte Huisman im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA: «Dieser hat sich auch über unsere Studie hinaus als guten Indikator für die Krankheitsdynamik in den jeweiligen Regionen bewahrheitet.»
Die wissenschaftliche Taskforce des Bundes stütze sich denn auch auf diesen aus dem Abwasser gewonnenen R-Wert, um ein «vollständigeres Bild der epidemiologische Lage zu erhalten», so Huisman. An der vorliegenden Studie war auch Taskforce-Präsidentin Tanja Stadler als eine der Letztautorinnen beteiligt.
Forschende weisen auf Schwachstellen hin
Die Forschenden weisen aber auch auf einige Schwachstellen hin. Beispielsweise reagiere der R-Wert sehr empfindlich auf Schwankungen der Viren-Konzentrationen im Abwasser, wenn nur wenige Menschen im Einzugsgebiet der Kläranlage lebten.
So untersuchen sie derzeit, wie gross eine Kläranlage mindestens sein muss, um ein zuverlässiges Signal für den Abwasser-R-Wert zu erhalten. «Bei kleinen Anlagen hilft das Abwasser wahrscheinlich eher nachzuweisen, ob das Coronavirus überhaupt in der Bevölkerung zirkuliert», sagte Huisman.
Die zeitliche Dynamik der Epidemie liesse sich wohl eher nicht beschreiben. «Beispielsweise in England wurde unsere Methode bereits eingesetzt und es zeigte sich auch dort, dass diese für grössere Kläranlagen ein sinnvolles Signal zur Überwachung der SARS-CoV-2-Ausbreitungsdynamik bietet.»
Den Studienautorinnen und -autoren zufolge könnte der Ansatz nicht nur für die Überwachung des Coronavirus und dessen Varianten genutzt werden, sondern ebenfalls für andere Pathogene wie Noroviren oder Enteroviren. Insbesondere nützlich wäre dies für Erreger, für die es keine Meldepflicht gibt oder entsprechende Fallzahlmeldungen nur zeitverzögert vorliegen.