3 Tote in 3 Wochen: Experten warnen vor Schweizer Haftbedingungen
In nur drei Wochen starben drei Gefangene in Schweizer Haftanstalten. Menschenrechtler warnen vor unhaltbaren Bedingungen und fordern Reformen.
Das Wichtigste in Kürze
- 2022 lag die Suizidrate im Schweizer Strafvollzug klar über dem europäischen Durchschnitt.
- Experten kritisieren die Haftbedingungen, insbesondere die Isolation in der U-Haft.
- Aktivisten fordern mehr Aussenkontakte und Gruppenvollzug, um Suizide zu verhindern.
Innerhalb von drei Wochen ist es in Schweizer Gefängnissen gleich zu drei Todesfällen gekommen.
Im Regionalgefängnis Burgdorf wurde am vergangenen Samstag ein 27-jähriger Häftling tot in seiner Zelle gefunden. Die Polizei schliesst eine Fremdeinwirkung aus.
Am 12. Januar lag in der Strafanstalt Saxerriet in Sennwald SG ein 50-jähriger Gefangener tot in seiner Zelle. Auch hier sei keine Dritteinwirkung im Spiel gewesen.
Und an Weihnachten verstarb ein Häftling (39) im Spital. Eine Woche zuvor war er in kritischem Gesundheitszustand in seiner Zelle im Regionalgefängnis Bern aufgefunden worden.
Die genaue Todesursache ist in allen Fällen noch Gegenstand der Ermittlungen.
2022: Überdurchschnittlich hohe Suizidrate
Tatsache ist: Ein Bericht des Europarates vom Sommer 2024 legt nahe, dass die Suizidrate in Schweizer Haftanstalten vergleichsweise hoch ist.
2022 nahmen sich im Durchschnitt aller Mitgliedsländer pro 10'000 Inhaftierte 5,3 das Leben. In der Schweiz lag der Wert bei 20,2.
In absoluten Zahlen ausgedrückt: Von insgesamt 17 Personen, die im Schweizer Strafvollzug verstarben, begingen 13 Suizid.
Für Livia Schmid, Leiterin der Beratungsstelle Freiheitsentzug bei Humanrights.ch, ist klar: «Die alarmierend hohe Suizidrate deutet darauf hin, dass hinter den Mauern der Schweizer Gefängnisse gravierende Probleme bestehen.»
Die Rechtsanwältin kritisiert insbesondere die Untersuchungshaft. Obschon Menschen in diesem Haftregime rechtlich als unschuldig gelten, seien die Bedingungen «unhaltbar».
«Inhaftierte verbringen oft bis zu 23 Stunden täglich allein in kleinen Zellen. Ohne sinnvolle Beschäftigung und mit stark eingeschränktem Kontakt zu Angehörigen», sagt Schmid.
«Erhalt von Aussenkontakten ist entscheidend»
Diese Isolation, die nachweislich irreversible Schäden verursachen könne, werde durch strikte Kontrollmassnahmen verstärkt.
«Jeder Brief wird gelesen, Telefonate sind meist verboten, und selbst der Versand von Büchern durch Angehörige wird zum Teil untersagt.»
Humanrights.ch fordert deshalb wo immer möglich die Umsetzung des Gruppenvollzugs. Zudem brauche es mehr Sensibilität seitens der Staatsanwaltschaften.
«Viele Angehörige berichten uns, dass ihnen Besuche oder Telefonate mit den Inhaftierten verweigert werden. Dabei ist der Erhalt von Aussenkontakten entscheidend, insbesondere für eine wirksame Suizidprävention», sagt Schmid.
Auch die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) hatte 2014 teils «übermässig restriktive» Bedingungen in der U-Haft festgestellt.
Sie vertritt die Ansicht, Zelleneinschlüsse von mehr als 20 Stunden pro Tag seien «grundrechtswidrig».
Zudem erscheine «die vollkommene Unterbindung des Besuchsrechts im Lichte menschen- und grundrechtlicher Vorgaben kaum als verhältnismässig».
U-Haft soll in Phasen eingeteilt werden
Laut Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren (KKJPD) sind die meisten Feststellungen des NKVF-Berichts «auch heute noch relevant».
Als Reaktion auf die Kritik hat sie im Herbst 2023 Empfehlungen zur Untersuchungshaft erarbeitet.
Diese basieren auf einem Phasenmodell. In Phase 1 (Eintrittsregime) soll geklärt werden, ob eine inhaftierte Person sich selbst oder andere gefährdet und ob Kollusionsgefahr besteht. Letzteres meint die Gefahr der Beeinflussung von Personen oder Beweismitteln.
Die Eintrittsphase soll maximal 30 Tage dauern.
Können besagte Risiken ausgeschlossen werden und erweist sich die Person als gruppentauglich, soll sie schnellstmöglich ins Standardregime wechseln. In dieser zweiten Phase gibt es längere Zellenöffnungszeiten und Gruppenvollzug.
Sobald der Stand der Strafuntersuchung es zulässt, beginnt Phase 3.
Hier gibt es zusätzliche Öffnungen wie soziale Aussenkontakte. Zudem gibt es die Gelegenheit, mit anderen Inhaftierten in der Gruppe zu arbeiten.
«Es hat ein Umdenken stattgefunden»
Alain Hofer, stellvertretender Generalsekretär bei der KKJPD, sagt zu Nau.ch: «Bei den Haftbedingungen der Untersuchungshaft hat in den letzten Jahren ein Umdenken stattgefunden.»
Er verweist etwa auf die laufenden Modellversuche in den Kantonen Bern und Zürich. Diese zielen darauf, Ressourcen der Inhaftierten wie deren Arbeitsstelle und Familienstrukturen zu erhalten. Zudem sollen Haftschäden verhindert werden.
Hofer relativiert zudem die Zahlen des Europarates, die sich ausschliesslich auf 2022 beziehen.
«In diesem Jahr gab es so viele Suizide wie sonst nie in den letzten zehn Jahren. Im langjährigen Durchschnitt ist die Selbstmordrate in der Schweiz deutlich tiefer.»
Das zeigen die Zahlen der Beratungsstelle für Unfallverhütung (BFS): 2023 gab es in Schweizer Haftanstalten acht Suizide, 2021 ebenfalls acht und 2020 zwei.
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Brauchst du Hilfe?
Bist du selbst depressiv oder hast du Suizidgedanken? Dann kontaktiere bitte umgehend die Dargebotene Hand (www.143.ch).
Unter der kostenlosen Hotline 143 erhältst du anonym und rund um die Uhr Hilfe. Die Berater können Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen. Auch eine Kontaktaufnahme über einen Einzelchat oder anonyme Beratung via E-Mail sind möglich.
Hilfe für Suizidbetroffene: www.trauernetz.ch