Menschenhandel

Adoptivtochter aus Korea wirft Schweiz Menschenhandel vor

Rowena Goebel
Rowena Goebel

Zürich,

Anita Müller* wurde wie über 1000 andere Kinder in den 1970er-Jahren aus Südkorea in die Schweiz gebracht und adoptiert. Ihre Kindheit war von Gewalt geprägt.

Korea
Die Fotos in den Adoptionsunterlagen von Anita Müller* als Baby. - zVg

Das Wichtigste in Kürze

  • In den 1970er-Jahren haben Schweizer Eltern über 1000 koreanische Babys adoptiert.
  • Eine von ihnen ist die 47-jährige Anita Müller*.
  • Sie erhebt bei Nau.ch schwere Vorwürfe gegen die Schweizer Vermittlungsorganisation.

«Es ist wie beim Kauf von einem Gegenstand. In dem Moment, in dem das Ding geliefert wird, gibt es kein Zurück mehr.» Anita Müller* ist eines von über 1000 südkoreanischen Kindern, die in den 1970er-Jahren in der Schweiz adoptiert wurden. «Von einer Sadistin und einem prügelnden Alkoholiker.»

Mit ihrem Leidensweg ist sie nicht allein: Die 47-Jährige ist Mitglied bei Dongari, einem Verein, der in den 90er-Jahren für Adoptierte aus Korea gegründet wurde. Das, nachdem ein einstiges Adoptivkind Suizid begangen hatte.

Adoptionen
In den 1970er-Jahren kamen über 1000 Kinder aus Südkorea in die Schweiz und wurden hier adoptiert. - Nau.ch/ZHAW im Auftrag des Bundesamts für Justiz

«Viele von uns haben Gewalt oder sexuellen Missbrauch erlebt», sagt sie zu Nau.ch. «Ich kann darüber sprechen, aber viele andere können das nicht, davon profitieren die Verantwortlichen bis heute.» So sei eine Aufarbeitung ausgeblieben.

«Meine Mutter sehnte sich nach etwas, das sie quälen konnte»

Müller wurde vom Kinderhilfswerk Terre des Hommes vermittelt, dem sie bis heute Vorwürfe macht: «Meine Adoptiveltern sagten, dass sie einfach nach Genf gingen, bei Terre des Hommes drei Babys anschauten und mich auswählten. Das war das ganze Adoptionsverfahren

Dass die Eltern überprüft wurden, kann sich Müller nicht vorstellen. «Meine Mutter sehnte sich nach etwas, das sie quälen konnte. Das war der Hauptgrund für diese Adoption», glaubt sie.

Sie habe Erinnerungen daran, wie die Mutter sie zu heiss badete, ihre Hand aufs heisse Glätteisen legte. Sie zwang, rohe Zwiebeln wie Äpfel zu essen. Sie ans Bett fesselte und im dunklen Zimmer einsperrte.

«Der Vater hat später noch ein leibliches Kind bekommen. Als wir Babys waren und in der Nacht weinten, schlug er mit der Faust auf uns ein. Bis wir still waren. Er hat uns praktisch bewusstlos geprügelt.»

Es gebe Fotos von ihr, die sie mit Flecken und Striemen im Gesicht zeigen, als sie wenige Monate alt war.

«Blut tropfte von Kinderzimmerwänden»

Eine Freundin von Müller, die ebenfalls aus Korea adoptiert wurde, habe ihr erzählt: «Bei uns ist das Blut jeweils von den Kinderzimmerwänden getropft.» Sie sei gezwungen worden, es selbst wieder wegzuputzen. «Wir beide erlebten auch sexuelle Gewalt von unseren Adoptivvätern», sagt Müller. Sie als 16-Jährige, ihre Freundin schon als Kind.

«Terre des Hommes hat nach der Übergabe nie nach mir geschaut», betont sie. Ein Vorwurf, den das Kinderhilfswerk zurückweist.

Für Müller endete die Gewalt erst, als sie mit 16 Jahren ins Schlupfhaus Zürich und später ins Frauenhaus flüchtete. Dort lebte sie, bis sie erwachsen wurde und für sich selbst sorgen konnte.

Terre des Hommes «hat es bis heute nicht kapiert»

Terre des Hommes zeigt sich «schockiert» über Müllers Aussagen, sieht sich jedoch nicht in der Verantwortung. Es habe gesetzliche Kriterien gegeben für die Auswahl von Adoptivpaaren, erklärt Sprecherin Anna Bertschy. Diese habe man unter anderem durch Hausbesuche überprüft – in allen Fällen, versichert sie.

Ob die Organisation auch bei Müllers Adoptiveltern anklopfte, dazu schweigt sie aus Datenschutzgründen. «Aus Respekt vor der Privatsphäre der zur Adoption vermittelten Personen beschränkt Terre des Hommes proaktive Kontaktaufnahmen auf ein Minimum.»

Wussten Sie, dass Hunderte Kinder aus Korea in die Schweiz gebracht wurden?

Für Anita Müller ist diese Antwort ein Schlag ins Gesicht, wie sie sagt. «Auch Menschenhändler würden nach der Übergabe einfach verschwinden. Der einzige Unterschied: Terre des Hommes behauptet, es sei zum Schutz meiner Privatsphäre gewesen.»

Sie hätte sich gewünscht, dass die Organisation ein Versäumnis zugegeben hätte. «Das zeigt, dass sie bis heute nicht kapiert haben, wie schlimm die Dinge waren, die mit uns passiert sind.»

Bund gibt Untersuchung in Auftrag

Ein erster Schritt in Richtung Aufarbeitung wurde inzwischen getan: Das Bundesamt für Justiz hat bei der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW eine Untersuchung in Auftrag gegeben. Diese fokussiert auf zehn Länder, darunter auch Südkorea.

Schon 2020 zeigte eine ZHAW-Studie, dass Hunderte sri-lankische Kinder illegal an Schweizer Paare abgegeben wurden. Nun unterstützt der Bund ein Projekt, das Betroffenen bei der Herkunftssuche hilft.

*Name geändert

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