Als die Schweiz am Rande eines Bürgerkriegs stand
Vor 100 Jahren herrschte Generalstreik in der Schweiz. Daraus sollte die schwerste politische Krise des noch jungen Schweizer Bundesstaates entstehen.
Die landesweiten Proteste verliefen weitestgehend ruhig. An einzelnen Orten geriet die Situation allerdings arg ausser Kontrolle: In Zürich starb ein Soldat und in Grenchen SO wurden drei Streikende vom Militär erschossen. Um weitere Eskalationen zu verhindern, brach die Arbeiterschaft den Generalstreik bedingungslos ab. Gemäss Historikern dürfte der Entscheid zum Streikabbruch am 14. November 1918 die Schweiz vor einem Bürgerkrieg bewahrt haben.
Parteipolitisch unterstützte vor allem die Sozialdemokratische Partei (SP) die Streiks und die Streikenden. Das damals regierende freisinnige Bürgertum befürchtete durch die Proteste die Generalprobe für eine sozialistische Revolution, wie sie in Russland 1917 Tatsache geworden war. Eine Sorge, welche sich geschichtswissenschaftlich als unbegründet erweisen sollte. Zur Abschreckung veranlasste General Ulrich Wille am 7. November 1918 den Aufmarsch seiner Streitkräfte in verschiedenen Schweizer Städten. Rund 95'000 Soldaten wurden schweizweit zum Ordnungseinsatz einberufen. Alleine in der Stadt Zürich wurden 20'000 Soldaten stationiert.
Der Truppenaufmarsch rief Empörung bei der organisierten Arbeiterschaft hervor, womit diese sich ab dem 12. November zu einem unbefristeten Generalstreik entschloss. 250'000 Arbeitnehmer folgten allein in städtischen Regionen dem Aufruf. Die Streikenden forderten unter anderem sofortige Neuwahlen des Nationalrats, das Frauenstimmrecht, eine Senkung der Arbeitswoche auf 48 Stunden sowie eine staatliche Alters- und Invalidenversicherung.
Schweizer schossen auf Schweizer
Trotz der bedingungslosen Kapitulation der Arbeiterschaft sollten schon wenig später einige ihrer Hauptanliegen eingeführt werden. So wurde 1919 beispielsweise die 48-Stunden-Woche Realität. Eine gesetzliche Arbeitszeitenbegrenzung, die nur 5 Jahre später einem bürgerlichen Referendum standhielt, das die gesetzliche Wochenarbeitszeit wieder erhöhen wollte.
Das Wichtigste in Kürze
- Der Landesstreik 1918 war eine Gefahr für den schweizerischen Frieden.
- Der Streik brachte einige bedeutende, sozialstaatliche Errungenschaften mit sich.
- Der spätere Bundesrat Ernst Nobs wurde wegen Anführung der Streiks 1919 zu Haft verurteilt.
Gegen Ende des Ersten Weltkrieges sollte sich nicht nur in Russland ein Aufstand der Arbeiterschicht regen. Auch in der Schweiz waren die lohnabhängigen Arbeiter zunehmend unzufrieden mit ihrer wirtschaftlichen Situation. Tiefe Löhne, knappe Lebensmittel und hohe Mietpreise vergrösserten die wirtschaftliche Ungleichheit zwischen Unternehmern und Arbeitern. Verschiedene Streiks in der ganzen Schweiz blieben das letzte politische Druckmittel der Betroffenen.
Streikende gegen Militär
Langfristige Wirkungen des Landesstreiks
Auch die noch vor Kriegsende geschlossenen Gesamtarbeitsverträge sowie die Schaffung der AHV stellten eine bedeutende soziale Errungenschaft dieser Ereignisse dar. Somit ebneten die Anliegen des Landesstreiks vor 100 Jahren einige jener sozialen Wertigkeiten, welche den modernen Schweizer Sozialstaat heute ausmachen.
Ebenso wurden die 1919 durchgeführten Neuwahlen des Parlaments wie gefordert erstmals nach dem Proporzsystem durchgeführt. Die Sozialdemokraten erreichten dadurch eine Verdoppelung ihrer Sitze im Parlament. Bis einer ihrer Vertreter allerdings auch in den Bundesrat gewählt wurde, sollte es bis 1943 dauern. Ernst Nobs wurde der erste Sozialdemokrat in der Landesvertretung. Ausgerechnet er, der noch 1919 als einer der angeblichen Anführer des Landesstreiks von der Militärjustiz zu einer umstrittenen Haftstrafe verurteilt worden war.
Ausführlichere Einblicke zum Landesstreik von 1918 liefert SRF1 am Donnerstagabend (20:05 Uhr) in der eigens realisierten Dokumentation «Generalstreik 1918, die Schweiz am Rande eines Bürgerkrieges».