Brienz Gemeindepräsident wurde zweimal evakuiert
Brienz Gemeinderat Daniel Albertin spricht über die zweite Evakuation seiner Gemeinde. Am schwierigsten sei der Widerstand der Bevölkerung gewesen.
Die Behörden im Bündner Bergsturzdorf Brienz waren vorbereitet, Bewohnerinnen und Bewohner notfalls gewaltsam aus ihren Häusern zu holen. Die grösste Herausforderung sei der Widerstand der Bevölkerung gewesen, sagte Gemeindepräsident Daniel Albertin über die Herausforderungen bei der zweiten Evakuierung der Menschen.
Jeder Brienzerin und jedem Brienzer eine persönlich verfasste Weihnachtskarte: Der Gemeindepräsident von Albula GR, Daniel Albertin, übernimmt auch diese Aufgabe, obwohl sich bei ihm schon zwei Jahre an Überzeit angehäuft haben. «Sie sollen spüren, dass man an sie denkt», sagte er im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA in Tiefencastel GR.
Erst gerade musste er die Brienzer Bevölkerung ein zweites Mal auf unbestimmte Zeit wegen einer drohenden Steinlawine evakuieren. Ein drittes Mal werde er das «zu hundert Prozent» nicht mehr machen. «Die Menschen machen das nicht mehr mit», sagte der 53-Jährige weiter.
Der grosse Unterschied zwischen den beiden Evakuierungen sei die Dauer. Im Juni 2023 war der Schuttstrom berechenbar. Damals stoppten 1,2 Millionen Kubikmeter Gestein kurz vor dem Dorf. Rund 50 Tage mussten die Einwohnerinnen und Einwohner von Brienz ihren Häusern fernbleiben. Heuer ist der Zeithorizont völlig offen. Möglicherweise geht es dieses Mal mehrere Monate.
Widerstand aus der Bevölkerung bei Evakuierung
Die grösste Herausforderung bei der zweiten Evakuierung sei der Widerstand der Bevölkerung gewesen, sagte der Gemeindepräsident. Einige Bewohner machten bereits bei der Ankündigung klar, dass sie ihre Häuser nicht gerne oder freiwillig verlassen würden. «Wie lange wollen Sie uns das noch zumuten?», fragte ein Bewohner damals. Ein anderer bat die Gemeinde, den Schritt zu überdenken. Ein Landwirt klagte, er wisse nicht, wohin mit seinen Tieren, insbesondere weil der Winter bevorstehe.
«Die Belastung zu verfolgen, ob an diesem dritten Sonntag im November wirklich alle gehen, war zermürbend», sagte Albertin. Eine Interventionsmassnahme, bei der die Menschen notfalls gewaltsam aus den Häusern geholt worden wären, sei bereits vorbereitet gewesen. Gebraucht wurde sie allerdings nicht.
Die angespannte Situation erforderte zwischenzeitlich auch mehr Polizeipräsenz bei den Informationsveranstaltungen. «Ich wollte die Sache nicht eskalieren lassen», erklärte der zweifache Familienvater, der damals ein grösseres Aufgebot bestellte. Es sei schliesslich schwierig abzuschätzen gewesen, wie einige Leute in ihrer Verzweiflung reagieren würden. Es habe durchaus auch einige Begegnungen gegeben, die er lieber nicht gehabt hätte.
Keine Nachfolge für Ende 2024 gefunden
Wie bereits Mitte November stellte der Gemeindepräsident auch kurz vor Weihnachten das Wohl der Bevölkerung ins Zentrum: «Bisher haben wir in Brienz niemanden verloren, das ist das Wichtigste.» Man müsse nur nach Spanien oder ins Misox und Tessin schauen, wo in diesem Jahr Naturkatastrophen mehrere Tote gefordert haben.
Eigentlich wollte Albertin sein Amt per Ende 2024 ablegen. Weil jedoch keine Nachfolge gefunden wurde, verlängerte er im November seine Amtszeit um zwei Jahre. Nur zwei Wochen nach diesem Entscheid musste er Brienz erneut evakuieren. Auf die Frage, ob er die Verlängerung seines Amts bereue, meinte er: «Bereuen wäre das falsche Wort, aber es ist schon eine grosse Belastung.» Er würde jedoch wieder so entscheiden.
Albertin leistete über zwei Jahre Überzeit
Albertin wurde 1994 in den Gemeindevorstand und 2002 zum Gemeindepräsidenten der damaligen Gemeinde Mon gewählt. Ab 2011 führte er die Gemeinden des Albulatals, darunter auch das spätere Bergsturz-Dorf Brienz, durch den Fusionsprozess. Zwischenzeitlich sass Albertin für die damalige CVP acht Jahre im Grossen Rat GR. 2015 wurde er erster Gemeindepräsident der neu fusionierten Talgemeinde Albula.
Damals rechnete man mit einem Pensum von 30 bis 50 Prozent. Dann kam Brienz. Aus 50 Prozent wurden 100 und mehr. Heute hat Albertin weit über zwei Jahre Überzeit geleistet. Wie dies abgegolten wird, sei noch offen. Kraft und Inspiration für sein Amt schöpfe er aus seinem zweiten Job auf dem eigenen Bauernhof. Jeden Morgen gehe er für mindestens zwei Stunden in den Stall, so der gelernte Landwirt.
Albertin will weiterhin «unangenehmen Themen» ansprechen
Langfristig könnten die Herausforderungen mit Brienz aber keine Sache der Gemeine bleiben. Im November erst forderte Albertin, dass der Kanton die ausserordentliche Lage für Brienz ausrufe und die Gemeinde so mehr Unterstützung erhalte. Die Regierung lehnte jedoch ab mit der Begründung, dass dafür die nötigen Kriterien nicht erfüllt seien. Eines davon wäre etwa, dass das Ereignis nicht nur eine Region betreffen, sondern Auswirkungen auf mehrere Gemeinden oder grössere Teile des Kantons haben muss.
Dennoch will Albertin nicht aufgeben. Er werde weiterhin die «unangenehmen Themen» ansprechen und sein Netzwerk nutzen. Dieses ermöglichte ihm schon weit reichende Unterstützung, insbesondere bei Finanzierungen. Der Brienzer Rutsch verursachte insgesamt schon Kosten von 77 Millionen Franken.
Froh sei er überdies über die «gute Arbeit» des Gemeindeführungsstabs, so Albertin weiter. Dieser stärkte ihn bei all den Herausforderungen. «Ansonsten würde es mich wohl verrupfen.»