Coronavirus: 12-Jährige kann wegen Long Covid nicht mehr zur Schule
An Schule ist bei Olivia* (12) nicht mehr zu denken. Sie leidet an Long Covid. Dabei handelt es sich um keinen Einzelfall. Betroffene kämpfen an allen Fronten.
Das Wichtigste in Kürze
- Die 12-jährige Bernerin Olivia leidet an Long Covid und kann nicht mehr zur Schule.
- Kein Einzelfall: «Long Covid Kids Schweiz» warnt vor Bildungsverlust und Zukunftseinbussen.
- Für die Behandlung von Long Covid fehlen klinische Daten, die Therapie ist teuer.
- Nau.ch konnte Olivia bei einer Blutwäsche-Therapie begleiten (siehe Video oben).
Eigentlich ist Olivia* ein aktives und sportliches Mädchen. Sie spielt Musik und Basketball, verabredet sich gerne mit ihren Freundinnen. Doch eine Infektion mit dem Coronavirus hat das Leben der inzwischen 12-jährigen Bernerin schlagartig geändert.
Sie wurde zunehmend müde, war extrem erschöpft. Die Energie fehlte.
Olivia leidet seit bald zwei Jahren an Long Covid, einer Folgeerkrankung einer Coronainfektion.
Im letzten Herbst infizierte sich Olivia ein zweites Mal mit dem Virus. «Ab dann ging es immer mehr bergab», erzählt ihre Mutter Deborah S.** gegenüber Nau.ch.
«Absolut erschlagen»
Zunächst musste die 12-Jährige ihre Hobbys aufgeben. Und auch in der Schule hatte sie zunehmend Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren und mitzumachen. «Sie kam jeweils absolut erschlagen nach Hause», sagt ihre Mutter.
Olivia wurde krank, litt an Fieber, Herzrasen und Schwindel. Dazu kamen Kopfschmerzen, Verdauungsbeschwerden und eine Belastungsintoleranz.
Als an Schule nicht mehr zu denken war, musste man ihr den Stundenplan zusammenstreichen. Sie sollte sich zunächst auf die Hauptfächer konzentrieren, konnte die Lektionen am frühen Morgen überspringen und Tests ausfallen lassen.
Doch auch das war noch zu viel. «Nach den zwei bis drei Lektionen am Tag lag sie flach und hatte keine Kraft mehr. Der Tag war gelaufen», sagt Deborah S.
Die Situation wurde immer schlimmer. Bereits nach einer kurzen Anstrengung war sie eine ganze Woche ans Bett gefesselt, konnte nicht mehr aufstehen. «Teilweise konnte sie nicht einmal sprechen, weil es zu viel Kraft gekostet hätte.»
Long Covid mindert Zukunftschancen der Kinder
Die Folge: Seit den Frühlingsferien war Olivia nicht mehr in der Schule und erhielt so seither kaum noch Bildung, soziale Kontakte fehlen.
Der Verein «Long Covid Kids Schweiz» warnt gegenüber Nau.ch, dass Kinder wie Olivia einen Teil ihrer Jugend, wenn nicht sogar die ganze, verlieren. «Und wegen der oft fehlenden/ungenügenden Beschulung verlieren sie zudem wertvolle Bildungsmonate/Jahre und Zukunftschancen. Wir haben bereits Jugendliche in unserer Gruppe, die wegen ihrer Erkrankung keinen Schulabschluss haben.»
Schätzungen über die Zahl der Betroffenen mit Long Covid gehen auseinander: Zwischen 70'000 und 300'000 Schweizerinnen und Schweizer sollen daran leiden.
Chantal Britt, Präsidentin «Long Covid Schweiz», sagt zu Nau.ch: «Es ist inakzeptabel, dass über vier Jahre keinerlei verlässliche Statistiken zur Häufigkeit von Long Covid bei Kindern bekannt sind.»
Keine offiziellen Daten zu Long Covid
«Bei ‹Long Covid Schweiz› stützen wir uns bei unseren Schätzungen auf Zahlen, die im Ausland erhoben werden.» Laut diesen Schätzungen würden mindestens 23'000 Kinder und Jugendliche in der Schweiz die Kriterien für Long Covid erfüllen. Mindestens 9000 davon hätten anhaltende Beschwerden, so Britt.
Claudia Schumm, Co-Präsidentin «Long Covid Kids Schweiz», ergänzt: «Rund 280 Familien aus der Deutschschweiz mit betroffenen Kindern/Jugendlichen tauschen sich derzeit in unserer Facebook-Gruppe aus.»
Und sie sagt: «In vielen Familien ist nicht nur ein Kind von Long Covid betroffen, sondern auch noch ein Geschwisterkind. Manchmal gar alle Kinder – und oft zusätzlich ein Elternteil. Die Zahl der Familien, die bei uns Hilfe suchen, steigt immer weiter an.»
Derweil kämpft Olivias Mutter Deborah S., die in der Sozialpädagogik arbeitet, mit den Ärzten. Ihr und ihrer Tochter sei nicht geglaubt worden, Long Covid sei als Depression abgetan worden, berichtet sie.
Die alleinerziehende Mutter von drei Kindern vernetzte sich daraufhin in Selbsthilfegruppen. Und tauschte sich während Stunden mit Betroffenen aus. Da erfuhr sie von der Möglichkeit einer Sauerstoff- und einer Blutwäsche-Therapie.
Klinische Daten fehlen bei Long-Covid-Therapie
Da klinische Daten fehlen, sind alle Ansätze «off-label» (ausserhalb des zugelassenen Gebrauchs), erklärt «Long Covid Schweiz». «Viele Krankenkassen und Versicherungen anerkennen Long Covid nicht als Erkrankung und schon gar nicht als körperliche Erkrankung.»
Präsidentin Britt bestätigt: «Es wird wie auch bei den IV-Gutachten meist auf die Psyche geschoben. Aus diesem Grund müssen Betroffene die Kosten für Blutwäsche selbst übernehmen.»
Nau.ch hat Olivia zu ihrer vierten Blutwäsche-Therapie begleitet. Dafür muss sie sich am frühen Morgen aus dem Bett kämpfen und den Weg nach Zürich auf sich nehmen.
Olivia ist vor und während des Termins sichtlich müde und erschöpft. Jeder Schritt, jede Bewegung ist eine Belastung. Sie spricht nur das Nötigste, um Energie zu sparen.
Angekommen in der Praxis in Zürich muss sie sich ähnlich wie bei einer Blutspende hinlegen. An den Venen werden ihr die Zugänge verlegt. Bei der Blutwäsche – im Fachjargon HELP-Apherese genannt – wird das Blut abgesaugt und anschliessend in einer Maschine gefiltert.
Nachdem Blutgerinnsel und Spike-Proteine rausgefiltert sind, wird das Blut wieder in den Körper geleitet. Diese Behandlung dauert pro Mal zwischen drei bis vier Stunden.
Während der Therapie schläft Olivia immer wieder ein. Um Fragen von Nau.ch beantworten zu können, fehlt ihr die Kraft. An ihrer Stelle gibt die Mutter Auskunft.
Therapie gibt Olivia Kraft
«Nach der Therapie geht es meiner Tochter besser. Sie hat wieder Kraft und ist teilweise voller Tatendrang», berichtet die Mutter. Da müsse sie Olivia auch mal bremsen, um einen Rückschlag zu verhindern.
«Doch es ist immer ein Abwägen. Schliesslich braucht sie auch soziale Kontakte und Erfahrungen», sagt Deborah S.
Die Long-Covid-Krankheit ihrer Tochter bringt sie nicht nur emotional und zeitlich an ihre Grenzen. Sie geht auch ins Geld. Auf die Behandlung zu verzichten, sei keine Option.
«Meine Tochter braucht diese Behandlung jetzt. Ich kann wegen einer gesundheitspolitischen Lücke nicht sie nicht behandeln lassen», sagt sie. Sonst drohe, dass die Krankheit ihrer Tochter chronisch werde, so die Befürchtung.
15'000 Franken per Crowdfunding gesammelt
Deshalb hat sie auf der Plattform «Go Fund Me» ein Crowdfunding gestartet und so 15'000 Franken gesammelt. Chantal Britt von «Long Covid Schweiz» sagt dazu: «Die Tatsache, dass Betroffene ein Crowdfunding durchführen, um ihre Behandlung zu bezahlen, sollte uns als Land eigentlich zu denken geben.»
Zusätzlich Hoffnung macht der Familie die Spitex, auf deren Unterstützung zur Betreuung sie nach Monaten des Wartens künftig zählen darf.
Weiter hofft Deborah S., dass die Gesellschaft und die Politik die Aufarbeitung der Pandemie nicht unter den Teppich kehren. Sondern, dass nach Lösungen gesucht wird und diese zeitnah umgesetzt werden. Ihr Appell: «Vergesst uns nicht, wir brauchen eure Hilfe!»
* Name geändert.
** Name der Redaktion bekannt.