Coronavirus: Was können wir von der Spanischen Grippe lernen?
Rund drei Monate nach der ersten Welle ist die zweite Welle des Coronavirus da. Das war bereits vor 100 Jahren bei der Spanischen Grippe so – nur ein Zufall?
Das Wichtigste in Kürze
- Die Spanische Grippe verlief ebenfalls in Wellen – im gleichen Abstand wie bei Corona.
- Bei Vergleichen müsse man jedoch vorsichtig sein, warnt Medizinhistoriker Flurin Condrau.
Auch wenn die Coronavirus-Situation für uns alle unbekannt ist – Epidemien sind keinesfalls ein neues Phänomen. Zeitzeugnisse von schweren Krankheitsausbrüchen finden sich durch die ganze Neuzeit, das Mittelalter und die Antike. Keine Epidemie dürfte dabei bis heute so bekannt sein wie die Spanische Grippe. Hilft uns die Pandemie, unsere aktuelle Situation besser zu verstehen?
1918 starben schätzungsweise zwischen 20 und 100 Millionen Menschen weltweit an einem neuartigen Influenza-Grippevirus. Die Sterblichkeit wie auch die Vorbedingungen der Epidemie lassen sich keinesfalls mit dem aktuell grassierenden Coronavirus vergleichen. Dennoch finden sich erstaunliche Parallelen. Ist alles Zufall oder können wir von der Spanischen Grippe lernen?
Nau.ch hat Flurin Condrau gefragt, Professor am Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte der Universität Zürich.
Vergleiche naheliegend, aber nicht unbedingt schlüssig
Dass man versucht, die Spanische Grippe mit dem Coronavirus zu vergleichen, liege nahe, findet Condrau. «Die Spanische Grippe war die letzte Pandemie, die in der Schweiz Spuren hinterlassen hat.» Grippe- und Coronaviren seien schliesslich recht nahe Verwandte. Bei beiden gilt beispielsweise die Tröpfcheninfektion als primärer Übertragungsweg.
Doch darüber hinaus überwiegen die Unterschiede. «Eine Meldepflicht gab es in der Schweiz erst ab Oktober 1918, darum hat man auch ganz schlechte Erkrankungszahlen. Eine Möglichkeit, Menschen etwa auf Intensivstationen am Leben zu erhalten, gab es nicht, ebenso fehlten Beatmungsgeräte.»
Der Umgang mit der Pandemie während des Ersten Weltkriegs war also ein ganz anderer: «Das in der Schweiz damals schlecht ausgebaute öffentliche Gesundheitswesen war von der Pandemie klar und eindeutig überfordert», so Condrau.
Coronavirus: Keine zweite Welle wie bei der Spanischen Grippe
Für Aufsehen sorgte jüngst eine grafische Darstellung aus einem Artikel der Fachzeitschrift «Emerging Infectious Diseases». Darin wird die Sterberate in Grossbritannien während der Pandemiejahre 1918 und 1919 dargestellt.
Das Bild von erster und zweiter Welle scheint uns nur zu vertraut: Selbst der Abstand dazwischen gleicht den Wellen des Coronavirus. Doch Condrau hält es für falsch, Parallelen zu ziehen: «Offengestanden halte ich das für ein Artefakt der Berichterstattung.»
Der bedeutendste Unterschied sei, dass während der ersten Welle der Spanischen Grippe kaum Massnahmen ergriffen wurden. Im Gegensatz dazu wurde in der ersten Welle der aktuellen Pandemie deutlich eingegriffen. «Die Frage stellt sich, was ohne Lockdown im Frühjahr passiert wäre», gibt Condrau zu bedenken.
Dass beide Epidemien im Herbst erneut besonders schwer grassierten, überrascht Condrau hingegen nicht. «Die Saisonalität hingegen ist unbestritten. Allein schon aufgrund des Übertragungsweges führt der Herbst heute wie damals zu einer Zunahme der Ansteckungsfälle.»
Grippeerkrankungen, wie auch Viren aus der Coronavirus-Familie, treten vermehrt im Winter auf.
Coronavirus: Ende der Pandemie nach drei Wellen?
Die Spanische Grippe verschwand Mitte des Jahres 1919 – etwas mehr als ein Jahr nach ihrem ersten Auftreten. Könnte dies auch beim Coronavirus der Fall sein?
«Das ist natürlich die Preisfrage, auf die es für mich keine Antwort gibt. Das Ende von Pandemien folgt keinem Automatismus», erklärt Condrau.
Auch hierbei sieht der Medizinhistoriker mehr Unterschiede als Parallelen: «Warum sich die Spanische Grippe veränderte, ist meines Wissens in der Forschung umstritten und nicht einfach erklärbar. Bis jetzt scheint Covid da anders, weil stabiler zu sein.»