Der Frauenstreik hat Tradition – und stellt doch alles auf den Kopf
«Die Schweiz hat doch gar keine Streik-Kultur», heisst es kurz vor dem zweiten nationalen Frauenstreik. «Und ob», korrigiert die Historikerin Brigitte Studer.
Das Wichtigste in Kürze
- Vor dem Frauenstreik herrscht die Meinung, die Schweiz habe keine Streikkultur.
- Tatsächlich haben die Schweizer vor allem in den 1920er- und 1940er-Jahren oft gestreikt.
- Erst durch die Friedensabkommen der Gesamtarbeitsverträge wurden Konflikte anders gelöst.
- Der Frauenstreik sprengt zudem die alte Definiton von Arbeit = Erwerbsarbeit.
Keine Woche dauert es mehr, dann rollt der Frauenstreik durch die Schweiz. In eidgenössischer Geschichte ist er der zweite seiner Art. Da war vor ihm bloss der Frauenstreik von 1991.
Der Streik, eine nationale Rarität? In direkter Verwandtschaft zum Frauenstreik befindet sich im kollektiven helvetischen Gedächtnis nur noch ein weiterer Streik. Der Landesstreik von 1918.
Schweizer Streikkultur?
Streiken also, sagen sich Schweizers, liegt nicht in unserer Natur. Es ist ein Instrument, zu dem Arbeitnehmer in Frankreich oder Italien greifen. Wir aber nicht.
Damit wird gerne auch gegen den anstehenden Frauenstreik vom 14. Juni argumentiert.
Historikerin Brigitte Studer schüttelt den Kopf. Das Selbstbild der Schweiz sei in Sachen Streikkultur ein durchweg falsches.
«Dass die Schweiz keine Streikkultur hat, ist ein Mythos», korrigiert Studer. «Bis in die 1920er-Jahre legten die Schweizer ihre Arbeit häufig nieder, um bessere Arbeitsbedingungen zu erzwingen. Sogar häufiger als in unseren Nachbarländern», erklärt die Geschichtsprofessorin.
671 Streiks in drei Jahren
Zahlen unterstreichen ihre Aussage. 1918, im Jahr des Landesstreiks also, gab es in der Schweiz 264 weitere Streiks mit 24’109 Streikenden. Im darauffolgenden Jahr waren es 233 Streiks. 1920 immerhin noch 174.
Auch der Zweite Weltkrieg hielt die Schweizer nicht vom Streiken ab. 1945 beispielsweise kam es zu mehreren Streiks in der Basler Chemie. Ihren Höhepunkt erlebte die Streikwelle der Vierziger direkt nach Kriegsende. 1946 kam es zu einem Ausfall von 184’483 Arbeitstagen und zur Erstürmung des Genfer «Hôtel de Ville» durch streikende Bauarbeiter.
Das Friedensabkommen als Streikbremse
Wie also kommen wir Schweizer zu der Überzeugung, ohne Streikvergangenheit dazustehen? «1937 wurde in der Uhren- und Maschinenindustrie ein Vertrag ausgehandelt, der ein Friedensabkommen beinhaltete. Damit garantierten alle, die den Vertrag unterzeichneten, auf Streiks zu verzichten.»
In den darauffolgenden Jahrzehnten unterschrieben immer mehr Arbeitnehmer ähnliche Verträge. Zum Friedensversprechen hinzu gesellte sich über die Jahre auch ein Vertragsteil, der materielle Forderungen regelt.
So wurde aus dem Vertrag mit Friedensabkommen ein Gesamtarbeitsvertrag. Wer ihn unterschreibt, verzichtet auf sein Recht zu streiken. «Damit ging die Streikkultur in der Schweiz verloren», erklärt Studer.
Des Schweizers Recht auf Streik
Zwar ist das Streikrecht seit 1999 in der Bundesverfassung verankert. Dort steht: Streik und Aussperrung seien zulässig, «wenn sie Arbeitsbeziehungen betreffen». Zudem «wenn keine Verpflichtungen entgegenstehen, den Arbeitsfrieden zu wahren oder Schlichtungsverhandlungen zu führen».
Mit anderen Worten: Was nicht direkt den Arbeitgeber betrifft, wie gesellschaftspolitische Forderungen, ist vom Streikrecht ausgenommen. Das ist für den Frauenstreik besonders relevant.
Frauenstreik definiert Arbeit neu
«Hier zeigt sich die gesellschaftliche Unterteilung in Produktion und Reproduktion. Produktion, also Lohnarbeit, gilt als echte Arbeit.
Reproduktion, also Kindererziehung und Haushalt dagegen nicht», so Studer. Hausfrauen beispielsweise leisten nach dieser Definition keine Arbeit. «Das heisst auch: Sie dürfen nicht streiken.»
Der Frauenstreik von 1991 aber habe diese traditionelle Definition von Arbeit symbolisch «gesprengt», sagt Studer. «Indem auch nicht Erwerbstätige gestreikt haben, zeigten sie: Was wir tun ist auch Arbeit.»
Dieser Apell habe den Frauen zu einem besseren Stand in der Gesellschaft verholfen. «Dass Frauen von sich aus handeln und fordern – in eigener Sache. Das war ein Novum. Und davon haben die Männer sich angegriffen gefühlt», erklärt Studer.
Kein Heimchen am Herd
Bis 1971 waren die Schweizer Männer sich gewohnt, die alleinige politische Berechtigung zu haben. Und plötzlich formierten sich die Frauen. Nahmen mit dem Stimm- und Wahlrecht ihren Platz in der Demokratie ein. Sie mauserten sich vom Heimchen am Herd zu einem Machtfaktor.
Heute stehen die Frauen rechtlich gut da. Nun gehe es in erster Linie darum, abgeriegelte Zirkel und Männer-Clubs zu öffnen. «Frauen müssen Druck machen und sich so Zugang verschaffen», sagt Studer. Gleichsam müssen sie in den «traditionellen Frauenbereichen wie Pflege, Haushalt und Kinderbetreuung die Männer aber auch ranlassen».
Nur wenn es der Schweizer Gesellschaft gelinge, «hermetisch abgeriegelte Zirkel zu sprengen», könne sie Gleichberechtigung erreichen. Davon ist Studer überzeugt.