Gil Ofarim Co. – Weshalb erfinden Menschen Hassverbrechen?
Gil Ofarims angebliche antisemitische Beleidigung entpuppte sich als grosse Lüge. Warum tun Menschen sowas?
Das Wichtigste in Kürze
- Gil Ofarim gestand, das antisemitische Hassverbrechen an ihm frei erfunden zu haben.
- Möglicherweise wollte er dadurch Aufmerksamkeit erlangen, vermutet ein Experte.
- Problematisch: Solche Falschaussagen schmälern die Glaubwürdigkeit tatsächlicher Opfer.
Der jüdische Sänger Gil Ofarim warf einem Mitarbeiter eines Hotels in Leipzig Antisemitismus vor. Doch: Die Vorwürfe waren frei erfunden – wie der Sänger später vor Gericht gesteht. Auch in den USA wurde schon von ähnlichen Fällen berichtet. So gab der Schauspieler Jussie Smollet 2019 fälschlicherweise an, rassistisch und homophob beleidigt worden zu sein.
Das wirft einige Fragen auf: Was bringt einen Mensch dazu, so vehement auf offensichtlichen Falschaussagen zu beharren? Was verspricht man sich davon? Der Gewaltforscher Dirk Baier ordnet bei Nau.ch ein.
Narzissmus als plausibelster Beweggrund
Da es nur zu wenigen und spezifischen Falschanschuldigungen komme, seien diese bislang wenig erforscht. «Es ist davon auszugehen, dass die Motive sehr individuell sind», erklärt Baier. Aber: «Möglicherweise mag es der Fall sein, dass man sich als Opfer von Hassverbrechen darstellt, weil man auf das Problem aufmerksam machen möchte.»
Dieser Beweggrund treffe aber nur in wenigen Fällen zu, denkt der Forscher. Plausibler ist für ihn ein anderer Grund: Hassverbrechen werden erfunden, um Aufmerksamkeit zu erlangen. Dafür besonders anfällig scheinen Menschen mit narzisstischen Zügen, so Baier zu Nau.ch.
Auch wenn sich aufgrund der begrenzten Anzahl Referenzfälle nur schwer Gemeinsamkeiten ableiten lassen, hält Baier fest: «Sie knüpfen an real vorhandenen Problem an.»
Es handelt sich jeweils um Menschen, die aufgrund der Hautfarbe, Religion oder Sexualität öfter Hassverbrechen erfahren. Zum anderen seien es aber Personen, die ohnehin schon öffentlich bekannt sind. Daher sei mediale Aufmerksamkeit garantiert.
Glaubwürdigkeit tatsächlicher Opfer wird angezweifelt
Problematisch findet Baier, dass Fälle wie jener Ofarims oft grosse mediale Aufmerksamkeit geniessen. Mehr als jene tatsächlicher Opfer von Gewaltverbrechen. «Dies kann dann zur Folge haben, dass Opfer von Hassverbrechen weniger ernst genommen werden. Weil man ihnen unterstellt zu übertreiben oder gar zu lügen», erklärt er weiter.
Spüren tatsächliche Opfer, dass ihnen nicht geglaubt wird, erhöhe das die Hemmschwelle, über die eigenen Erfahrungen zu sprechen. Der Gewaltforscher findet daher: «Der Bärendienst, den Personen mit Falschanschuldigungen den Opfern von Hassverbrechen erweisen, sollte diesen Personen aber bewusst gemacht werden.»
Mehrheit der antisemitischen Vorfälle wird nie angezeigt
Auch Jonathan Kreutner vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) bestätigt, dass solche Falschanschuldigungen kein weit verbreitetes Problem sind. Im Bezug auf Gil Ofarim sagt er aber auch: «Wenn solche Fälle nun medial eine grosse Öffentlichkeit erreichen, kann es tatsächlich zu einem Glaubwürdigkeitsschwund bei anderen, echten Fällen führen.»
Ein Problem sieht der SIG aber auch darin, dass nur eine Minderheit antisemitischer Fälle tatsächlich angezeigt werde. Das liege unter anderem daran, «dass Klagen wegen antisemitischer Vorfälle heute stark untermauert werden und schriftliche oder bildliche Beweise vorliegen müssen.»