Ich zahlte, um mich entführen und foltern zu lassen
Sich im Sarg einsperren und foltern lassen – dafür Geld zahlen. Ich hab's probiert. Und würde es wieder tun. Laut einer Trauma-Expertin potenziell gefährlich.

Das Wichtigste in Kürze
- In der Schweiz kann man sich für Geld traumatisieren lassen.
- Nau.ch-Redaktor Alexander König hat's ausprobiert und findet: «Das macht Spass!»
- Eine Trauma-Expertin findet solche Erlebnisse potenziell gefährlich.
- Achtung, Triggerwarnung!
Seien es Horrorfilme oder Achterbahnen: Nervenkitzel hat seinen Reiz.
Besucher von Events wie den «Dark Nights» in Tägerwilen TG zahlen Bares, damit sie entführt und gefoltert werden.
Ich hab es ausprobiert – und fand mich plötzlich in einem Sarg wieder, der verbrannt wird.
Horror-Gäste betrinken sich – aus Angst?
Aber von Anfang an:
Angekommen, betritt man eine grosse Halle mit Bar. Käsefondue steht bereit, und einige Gäste trinken einen Shot nach dem anderen – aus Angst vor dem, was ihnen bevorsteht?
Dann wird mir ein Vertrag vorgelegt: «Die Attraktion ist für Menschen mit Angststörungen oder Herzerkrankungen ungeeignet. Bei Zwischenfällen wird jegliche Haftung ausgeschlossen.»
Es gibt zwei Varianten: die «Standard»- und die «Hardcore»-Variante. Mutig – oder leichtsinnig – kreuze ich «Hardcore» an.
Blind in den Schrecken
Im Wartebereich beobachte ich Menschen im «Geisel»-Outfit, Stoffsäcke über den Köpfen.
«Wohl Schauspieler, die zur Show gehören», denke ich. Doch eine halbe Stunde später wird mir klar: Das sind nicht Schauspieler, das sind Gäste!
Ich schlucke, zweifle an meiner Entscheidung – einen Rückzieher will ich aber nicht machen.

Dann geht es ganz schnell: Meine Hände werden gefesselt, ein Stoffsack über meinen Kopf gestülpt.
«Dark Nights»: Kidnapping am eigenen Leibe
Panik keimt auf. Habe ich einen Fehler gemacht?
Um mich abzulenken, stelle ich mir absurde Fragen: «Was passiert, wenn jemand betrunken ist und sich in diesen Stoffsack übergibt? Ist das schon mal vorgekommen?»

Ein Darsteller führt mich zu einem Auto, lacht hämisch: «Du hast keine Ahnung, was jetzt auf dich zukommt, ja? Nur ein Idiot würde so etwas Gefährliches freiwillig mitmachen.»
Ein Fahrer hilft mir ins Auto und flüstert beruhigend: «Alles gut, es kommt alles gut!» Nach einer halben Minute Fahrt wird mir der Sack vom Kopf gerissen.
Für Geld durch die Gegend gejagt
«Lauf! Lauf um dein Leben!» Ein hysterisch schreiender Gefängniswärter jagt mich durch ein Labyrinth.
In jeder Sackgasse lauern Monster, die plötzlich hervorspringen und mich erschrecken. Am Ende werde ich in eine Zwangsjacke gesteckt und auf einen Rollstuhl gesetzt.

Eine irre Psychiatrie-Pflegerin brüllt mir ins Ohr, kommt dabei schon fast unangenehm nahe: «Bald schon haben wir dich!» Sie schiebt mich durch eine inszenierte Psychiatrie:
Blutverschmierte Chirurgen «operieren» Patienten und entnehmen ihnen Gehirne, die erschreckend echt aussehen.

Der Chefchirurg zeigt mit dem Finger auf mich und sagt zur Pflegerin: «So, bring mir den neuen Patienten!»
Gehirne werden entnommen
Dann geht es weiter:
Eine Person liegt leblos auf einem Krankenbett. Mit heraushängenden Eingeweiden. Sicher eine Attrappe, denke ich – bis sie plötzlich aufspringt und mich anschreit.
Mein Herz rast. Um die Nerven zu beruhigen, lache ich – ein Schutz-Reflex?

Die Darsteller bleiben unnachgiebig in ihrer Rolle: «Dir wird das Lachen schon bald vergehen – hier gibt es kein Entkommen!»
«Bis jetzt halte ich mich ganz gut», sage ich zu mir selbst.
Doch dann lande ich im Einäscherungsraum und werde in einen Sarg gesperrt. Ich denke mir: «Okay, solange ich ihn öffnen kann, ist es ja nur ein Spiel.»
Der Sarg beginnt, sich zu drehen. Panik, denn ich stelle fest: Ich kann ihn nicht öffnen! Die Folter wirkt.
Nach wenigen Sekunden endet der inszenierte Verbrennungsvorgang – kurz, aber intensiv. Ein paar weitere Schockmomente später ist der Spuk vorbei. Die Show endet.

Zurück in der Gastrohalle lasse ich die Erlebnisse Revue passieren. «Jetzt brauche auch ich einen Shot!», sage ich.
Weil ich meine Reaktion beim Verlassen des Durchgangs aufzeichnen lasse, ist der gratis.
Das hat irgendwie Spass gemacht. Ob das allen so geht?
Leute, die Panikattacken kriegen, haben «Angst vor Hexen an Fasnacht»
Thomas Gasser (55) organisiert die Events. Die Geschichte dahinter: «Im Europapark waren alle Gruselhäuser geschlossen. Um meinen enttäuschten Sohn zu trösten, versprach ich in elterlichem Hochmut, eines in unserer Garage zu bauen. In der Hoffnung, er würde es vergessen.»
Doch weit gefehlt: «Kaum waren wir daheim, forderte er die Umsetzung ein!» So nahm der Schrecken vor zehn Jahren seinen Anfang.
Heute sagt Gasser: «Es kommt jedes Jahr vor, dass wir die Performance unterbrechen und den Gast aus der ‹Scarezone› führen müssen.»

Bei 100 Gästen passiert das zwei- bis dreimal. «Das sind aber meistens Leute, die schon vor Hexen am Fasnachtsumzug Angst haben.»
Es kommt also selten vor. Der Hexen-Vergleich heisst aber nicht, dass der Veranstalter die Ängste seiner Gäste nicht ernst nimmt.
Show-Abbruch bei Krise
Im Gegenteil: «Hat jemand eine Panikattacke oder wird es ihm aus anderen Gründen zu viel, unterbrechen wir sofort die Performance.»
Die Gäste werden in den Gästebereich begleitet, wo sich, wenn nötig, jemand mit medizinischem Hintergrund um ihn kümmert.
«Erst wenn wir sicher sind, dass es dem Gast wieder gut geht, ziehen wir uns zurück. Über die Jahre hinweg haben wir ein feines Gespür dafür entwickelt, ob jemand kurz vor der Panik steht.»
Doch warum tut man sich so etwas überhaupt an? «Es hat einen Reiz, sich seinen Ängsten zu stellen», erklärt Gasser.
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Auch für mich war das der Grund. Aber es gibt auch einfach Horror-Fans, denen Filme nicht genug sind und die den Extra-Kick suchen, so der Organisator.
Dass jemand langfristige Schäden davonträgt, ist Gasser nicht bekannt.
Kidnapping auf Abruf: Trauma-Opfer können profitieren – mit einem grossen Aber
Ein Trauma durch Horror auf Abruf?
Auch die Berner Trauma-Psychologin Anja König hält dies für unwahrscheinlich – zumindest bei gesunden Menschen: «Ein Trauma kann nur dann entstehen, wenn keine Kontrolle vorhanden ist.»
Das sei hier nicht der Fall. «Die Gäste können ja jederzeit ‹stopp› sagen, wissen, dass ihnen geholfen würde.»

Mit Hinblick auf Menschen, die bereits ein Trauma haben, frage ich mich:
Wenn jemand durch ein Kidnapping ein Trauma erlebt hat – was passiert, wenn er die inszenierte Entführung durchlebt?
Aktivieren sich dann nicht dieselben Gehirnverknüpfungen?
Und wenn er die inszenierte Situation durchsteht, lassen sich diese Gehirnzellen nicht neuverknüpfen, das Trauma vielleicht aufarbeiten?
Ich lege diese Gedanken der Expertin vor.
Sie bestätigt: «So könnte die Erfahrung der Kontrolle, deren Verlust zum Trauma führte, ‹nachgeholt› werden.»
Aufgrund der neuronalen Plastizität des Gehirns sei es möglich, das Erlebte neu abzuspeichern.

Zumindest in der Theorie. In der Praxis sei es aber schwierig. «Es müssten wahnsinnig viele Bedingungen erfüllt sein. Dass die Person Nein sagen kann, heisst nicht automatisch, dass sie sich imstande fühlt. Was, wenn sie in einen Schockzustand verfällt?»