Immer mehr Primarschulkinder tragen Windeln
In den Primarschulen sitzen vermehrt Kinder, die noch nicht aufs Töpfchen gehen können. Schuld sind Eltern und Gesellschaft. Pädagogen schlagen Alarm.
Das Wichtigste in Kürze
- Einer Entwicklungspädagogin zufolge tragen immer mehr Schulkinder noch Windeln.
- Laut Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm würden Kinder auf die Windel konditioniert.
- Auch liessen mache Eltern das Thema schlicht «schlittern», weil die Windel praktisch sei.
Was, wenn mein Kind bei der Einschulung noch Windel trägt? Ein konstruiertes Problem, das kaum jemanden betreffen dürfte, möchte man meinen.
Tatsächlich findet sich allerhand dazu: «Grossbritannien steckt in einer Töpfchen-Krise», titelte «20 Minuten» 2017, ein Jahr später warnte die St. Galler Bildungsdirektorin im «Tagblatt» vor einem wachsenden Problem. In Foren tauschen sich besorgte Eltern aus, anderswo finden sich die entsprechenden Online-Ratgeber. Wie kommt das?
Erziehungswissenschaftlerin: «Kinder werden auf die Windel konditioniert»
Die Entwicklungspädagogin Rita Messmer sagt gegenüber der «Sonntagszeitung», sie werde derzeit «überrannt mit Anfragen». Die Zahl an Kindern, die in der Schule Windeln trügen, sei «extrem gestiegen». Auch einen Elfjährigen hatte sie schon in ihrer Praxis, weil er nie gelernt hatte, aufs WC zu gehen.
Messmer erklärt: «Jedes Neugeborene bringt biologisch alle Anlagen zur Reinlichkeit mit auf die Welt.» Ein Baby gebe Signale, wenn es sich erleichtern muss. Es werde unruhig, fange zu weinen an und suche Augenkontakt.
Dann könne man das Kind aufs Töpfchen setzen, so Messmer. «Stattdessen ziehen wir ihm Windeln an, weil uns die Medizin sagt, es könne sein Geschäft noch gar nicht allein verrichten.»
Die Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm stellt fest, dass Windeln immer angenehmer würden. Sie liessen sich «wie normale Unterhosen» tragen. «So werden Kinder auf die Windel konditioniert.»
Stamm zieht auch die Eltern in die Verantwortung: «Manche Eltern lassen das schlittern, weil die Windel eine praktische Entlastung ist. Das gilt heute nicht mehr als problematisch.» Auch gibt es Eltern, die ihren Kindern auf Ausflügen oder am Wochenende Windeln anziehen. «Das ist ein komplett falsches Signal», so Stamm.
Eltern suchen Wickel-Aushilfe per Stelleninserat
Die Schulen sehen es als Voraussetzung an, dass Kinder ohne Windel durch den Tag kommen. Der Aargauer Schulleiter Philipp Grolimund veranstaltet vor der Einschulung jeweils Infoanlässe zur «Windelthematik».
Die Schule Spreitenbach wiederum verteilt bereits ein Jahr vor Eintritt in den Kindergarten Flyer zum Thema. Den Eltern soll klar werden, dass ihre Kinder nicht vom Schulpersonal gewickelt werden. Eltern müssten dafür «abrufbar» sein«. Andere Schulen handhaben dies laut «Sonntagszeitung» ähnlich.
Nur was tun, wenn man nicht stets auf Abruf sein kann? Die Zeitung hat ein entsprechendes Stelleninserat gefunden. Darin sucht ein Paar «eine Dame, welche unseren fünfjährigen Sohn auf Abruf Wickeln gehen könnte.» Sie selbst seien leider verhindert, da beide berufstätig seien.