Lehrer haben wegen Eltern Angst vor Sexualkunde
Konservative Kreise wollen den Sexualkundeunterricht beeinflussen. Einen Lehrer verunsichert das. Die oberste Lehrerin verteidigt die Lektionen jedoch.
Das Wichtigste in Kürze
- Christlich-konservative Kreise machen zunehmend Stimmung gegen Lehrpersonen.
- Besonders unter Beschuss: der Sexualkundeunterricht.
- Ein Junglehrer fühlt sich wegen der aktuellen Debatte zunehmend «verunsichert».
- Die oberste Lehrerin der Schweiz klärt bei Nau.ch über den Sexualkundeunterricht auf.
Die Sexualkunde steht zunehmend unter Beschuss. Immer wieder gibt es Berichte über (vermeintlich) besorgte Eltern, die gegen den Sexualunterricht protestieren. So versuchen sie, bestimmte Begriffe wie die Klitoris zu zensurieren. Manche wollen gar mittels rechtlicher Schritte eine Abschaffung des Sexualunterrichts erzwingen.
Die Kritik stammt in der Regel aus dem christlich-konservativen Umfeld.
Wohin diese Stimmung führen kann, zeigt ein aktueller Fall aus Pfäffikon ZH. Im Rahmen des Sexualkundeunterrichts machten Eltern einem homosexuellen Lehrer schwere Vorwürfe. Darunter: Er soll die Kinder zum Masturbieren aufgerufen haben.
Obwohl er die Vorwürfe widerlegen konnte, wurde der Lehrer schliesslich entlassen. Der Druck der erzkonservativen Kreise war offenbar zu gross.
Aargauer Junglehrer «verunsichert»
Bei Lehrpersonen, die Sexualkunde unterrichten, sorgt die aktuelle Debatte für «Verunsicherung». Ein Aargauer Junglehrer (25), der anonym bleiben will, sagt zu Nau.ch: «Bei der Vorbereitung des Unterrichts schwingt nun ein ungutes Gefühl mit, dass Eltern sich im Nachgang beschweren könnten. Und das, obwohl ich mich an den Lehrplan halte.»
Zusätzlich sieht sich der Aargauer Junglehrer in der Gesellschaft mit falschen Annahmen zum Sexualkundeunterricht konfrontiert.
«Viele aus meiner Generation, aber auch Ältere erinnern sich nur an ihren eigenen Unterricht zurück. Dieser beschränkte sich oft nur auf Fortpflanzung, Verhütung und sexuell übertragbare Krankheiten.» Heute sei der Unterricht viel breiter gefächert und beinhalte auch Themen wie Geschlecht und sexuelle Orientierung, sagt er.
Das ist eine mögliche Erklärung für die zunehmenden Beschwerden konservativer Eltern.
Oberste Lehrerin versteht Lehrer-Verunsicherung
Bei Dagmar Rösler, Zentralpräsidentin der Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH), stösst der junge Lehrer mit seinen Sorgen auf Verständnis. Sie sagt zu Nau.ch: «Ich verstehe, dass die Vorkommnisse in Pfäffikon und die Debatte um Sexualkunde verunsichern können.»
«Der Vorfall stimmt einen nachdenklich», sagt sie. «Respekt und Toleranz gehören zu den wichtigsten Werten, die die Schule vermittelt.» Sie könne es daher nicht verstehen, wenn dieser Respekt und diese Toleranz gegenüber Lehrpersonen nicht entgegengebracht werden.
Grundsätzlich gelte: «Solange sich eine Lehrperson nichts zuschulden kommen lässt, sollte sie auch nichts zu befürchten haben.»
Hierbei sei es wichtig, dass sie sich auf die Schulleitung und die Behörden verlassen kann.
«Lehrerinnen und Lehrer sind Fachpersonen, nicht die Eltern»
Zudem dürfen die Lehrpersonen ein gesundes Selbstbewusstsein ausstrahlen. «Schliesslich sind sie die Fachpersonen, wenn es um die Gestaltung des Unterrichts geht, nicht die Eltern.»
Die Schule biete einen neutralen Boden. «Die Schülerinnen und Schüler werden befähigt, Themen wie Geschlecht und Sexualität zu reflektieren», erklärt sie.
Und: «Es geht in erster Linie darum, Themen zu behandeln und zu besprechen, die für Jugendliche wichtig sind, die sie beschäftigen. Die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler stehen im Zentrum.»
Gerade in Anbetracht der psychischen Gesundheit sei es wichtig, darauf einzugehen, was sie beschäftigt. Und das seien nun mal häufig auch Themen wie Identität und Geschlecht. «Es geht in keiner Weise darum, Kinder zu indoktrinieren, wie dies manche Kreise vorwerfen», wehrt sich Rösler.
Das sieht der Lehrplan 21 vor
Die Lehrerinnen und Lehrer müssen sich – wie bei allen anderen Themen auch – an den Lehrplan 21 halten. Ein erstes Mal ist die Sexualkunde gegen Ende der Primarschule, in der fünften oder sechsten Klasse, Thema.
Dabei geht es einerseits um Wachstum und Entwicklung des menschlichen Körpers. Über den Aufbau und die Entwicklung des menschlichen Körpers, die Funktionen von verschiedenen Organen.
Auf Sekundarstufe wird die Sexualkunde dann in zwei verschiedenen Fächern und als fächerübergreifendes Thema behandelt. Im Fachbereich «Natur und Technik» werden laut Lehrplan die Themen Fortpflanzung, Verhütung und sexuell übertragbare Krankheiten behandelt.
Im Fachbereich «Ethik, Religion und Gesellschaft» geht es um den Umgang mit der Sexualität und den Respekt der Rechte anderer.
«Zudem werden überfachliche Themen behandelt. So werden beispielsweise bei der Berufswahl die Schülerinnen und Schüler dazu angehalten, über Geschlechterrollen zu reflektieren», erklärt Rösler.
«Stimmung ist gefährlich»
Einheitliche Lehrmittel gebe es für den Sexualkundeunterricht zwar keine, dafür aber viele gute Angebote, aus denen Lehrpersonen wählen können. «Es liegt im professionellen Ermessen der Lehrerinnen und Lehrer zu entscheiden, was am besten passt, solange der Lehrplan eingehalten wird.» Schliesslich sei jede Klasse auch anders und habe entsprechend andere Bedürfnisse.
Dass der Sexualkundeunterricht Eltern beschäftigt, kann sie zwar verstehen. Nicht aber, dass diese dann ihren Frust an Lehrpersonen entladen, die sich lediglich an ihren Lehrauftrag halten.
«Diese Stimmung ist gefährlich», sagt die oberste Lehrerin. «Sonst beginnen Lehrpersonen plötzlich damit, aus Angst vor Eltern wichtige Themen nicht mehr anzusprechen.» Dann könne am Ende der Lehrauftrag nicht mehr erfüllt werden.
Übrigens: An vielen Schweizer Schulen dürfen Eltern ihre Kinder aus religiösen Gründen vom Sexualkundeunterricht dispensieren lassen. Die Praxis wird scharf kritisiert.