Muss die Schweiz sich auf eine Flüchtlingswelle vorbereiten?
Weil wieder mehr Migranten über das Mittelmeer kommen, hat Italien den Notstand ausgerufen. Auch in der Schweiz könnte die Zahl der Asylgesuche bald steigen.
Das Wichtigste in Kürze
- Italien hat wegen mehr Migranten auf der Mittelmeer-Route den Notstand ausgerufen.
- Auch in der Schweiz dürfte die Zahl der Asylgesuche laut dem SEM bald ansteigen.
- Die Politik sei gefordert, sagt ein Experte.
Italien hat am Dienstag den landesweiten Notstand ausgerufen. Denn die italienische Regierung rechnet in den nächsten Monaten mit einer Zunahme bei den Ankünften von Migranten über das Mittelmeer. Seit Anfang Jahr haben rund 31’000 Migranten das Land auf dem Seeweg erreicht. In den beiden Jahren davor waren es im gleichen Zeitraum jeweils etwa 8000 gewesen.
Zudem appelliert die Regierung an die Europäische Union: Nur ein «bewusstes und verantwortungsvolles Eingreifen der EU» könne zur Bewältigung beitragen, sagte der Minister für Katastrophenschutz, Nello Musumeci.
SEM beobachtet Situation in Italien
Das wird auch in der Schweiz zum Thema. «Die Schweiz beobachtet die Situation in Italien intensiv», heisst es beim Staatssekretariat für Migration (SEM) auf Anfrage. Man stehe «in regelmässigem, engem Austausch mit den italienischen Behörden».
Denn: Grössere Flüchtlingswellen, die über die Mittelmeerroute nach Europa gelangen, haben auch Auswirkungen auf die Schweiz. «Der Trend ist auch für uns relevant», erklärt der Migrationsexperte und ehemalige Botschafter für internationale Migration im EDA Eduard Gnesa gegenüber Nau.ch. Bereits 2022 habe man sowohl in der Schweiz als auch in der EU eine bedeutende Zunahme an Migranten erlebt.
Gerade in den letzten drei Monaten seien laut Gnesa aussergewöhnlich viele Geflüchtete nach Italien gelangt. «Die saisonale Migration ist im Vergleich zu anderen Jahren auch den Winter über vergleichsweise hoch geblieben», bestätigt auch Samuel Wyss vom SEM.
Zahlreiche Faktoren führen zu mehr Migration
Abgesehen von den «üblichen» Ursachen, wie Konflikten und Perspektivlosigkeit gibt es gemäss Gnesa mehrere weitere Faktoren, die zu mehr Migration nach Europa führen. «Einerseits herrscht gerade in Subsahara-Ländern grosser demografischer Druck. In gewissen Ländern ist die Hälfte der Bevölkerung jünger als 15 Jahre», erklärt der Experte. «Dazu kommen Umweltereignisse wie die Dürre in Subsahara-Ländern, die Überschwemmung in Pakistan und das Erdbeben in der Türkei und Syrien.»
Und auch der Ukraine-Krieg, der in vielen Ländern eine Nahrungsmittelkrise ausgelöst hat, oder das Coronavirus, das viele Menschen in die Armut getrieben hat, verschlimmere die Situation. «Viele Migrantinnen und Migranten sind während der Pandemie in den Transitländern geblieben», so Gnesa. Dort hätten sich die Flüchtlingsbewegungen quasi angestaut – und jetzt versuchten viele gleichzeitig, weiter nach Europa zu reisen.
Schweiz nicht Zielland der Neuankömmlinge
Kommen diese jetzt alle in die Schweiz? Wyss gibt Entwarnung: «Für die Mehrheit der Personen, die derzeit in Süditalien anlanden, ist die Schweiz aktuell weder Ziel- noch Transitland.» Die Zahlen der Aufgriffe an den Schweizer Grenzen seien im März gegenüber Februar sogar leicht rückläufig gewesen. Das liege auch daran, dass derzeit weniger Menschen über den Balkan nach Europa gelangen.
Trotzdem werden wieder mehr Migranten kommen. «Im Verlauf des zweiten Quartals 2023 dürfte wieder ein Anstieg der Asylgesuche erfolgen», meint er. Für das ganze Jahr rechne das SEM mit ungefähr 27'000 neuen Gesuchen. Das sind etwa 3000 mehr als in Vorjahr. Schon 2022 gab es einen massiven Anstieg von 64 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Das SEM und die Kantone würden laufend daran arbeiten, neue Unterkünfte für die Asylsuchenden zu erschliessen.
Experte appelliert an Politik
Laut Gnesa muss die Politik aber noch in anderer Hinsicht aktiv werden: «Es müssen weitere Migrationspartnerschaften mit anderen Ländern geschlossen werden», erklärt er. Zum Beispiel mit Tunesien oder Nigeria würden solche Abkommen, die auch die Rückkehr regeln, bereits gut funktionieren. «Die Grenzen abzuriegeln hat noch nie funktioniert», betont er.
Stattdessen sei es wichtig, um keine falschen Anreize zu schaffen, dass die Asylverfahren und Rückführungen rasch abgewickelt werden können. Zudem sollte die Schweiz seiner Ansicht nach beim Thema Migration auch mit ähnlich gesinnten EU-Ländern zusammenarbeiten.