Nordische Heldengeschichte aus Schweizer Hand
In der Romanbiografie von Joachim B. Schmidt «Ósmann» trotzt der Fährmann den harten Elementen Islands, während sein Leben auch süss wie Kandiszucker erscheint.

Ósmann trotzt den Elementen. Auf Island im 19. Jahrhundert ist das kein Zuckerschlecken. Dennoch ist das Leben des Fährmanns zuweilen süss wie Kandiszucker, zumindest in der neuen Romanbiografie «Ósmann» von Joachim B. Schmidt.
Schnell vergisst man beim Lesen, dass das Leben des Isländers Jón Magnússon Ósmann (1862-1914) in diesem Buch wie ein Theaterstück «aufgeführt» wird. Denn die einzelnen Szenen sind mit einem kurzen Wetterbericht versehen und mit der Angabe, wie viele Winter der Protagonist überlebt hat – und schon steht man mitten drin im peitschenden Wind.
Mit Ósmann blickt man auf den Skagafjord hinaus, sieht, wie sich das Grönlandeis darin stapelt oder wie der Frühlingsregen über die Gipfel des Tindastóll zieht. Und dann, im Sommer 1904, geschieht es: Ósmann findet am Strand eine angeschwemmte Frau, die er noch nie gesehen hat. Es wäre nicht die erste Leiche, die der Fährmann in Joachim B. Schmidts Roman «Ósmann» melden muss. Aber diese Frau ist nicht tot.
«Sie zog die Beine an und grub die Finger ihrer linken Hand in den Sand – es war also keine Leiche, die da am Flussufer lag, kein Geist, nein, es war ein lebendiges Wesen, auch wenn das Lebendige lediglich an einem dünnen Faden zu hängen schien. Aber wieso war die Frau nackt? Hatte sie ihr Robbengewand abgelegt?»
Isländische Mythologie und Menschlichkeit unter extremen Bedingungen
Und schon ist man auch mittendrin in der isländischen Mythologie, in der Ertrunkene zu Robben werden, und diese sich manchmal wieder unter die Menschen begeben. Für Ósmann jedenfalls sind Elfen, Trolle und herumgeisternde Seelen keine Seltenheit, «denn am Fabelstrand war alles möglich.» Auch Menschlichkeit unter unmenschlichen Bedingungen: Der Fährmann hilft den Armen und schenkt den Kindern Kandiszucker.
«Island hat mich zum Schriftsteller gemacht», sagt der Bündner Autor Joachim B. Schmidt im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. «Als Teenager reiste ich zum ersten Mal hin, mit meinem Gotti», erinnert er sich. «Ich verliebte mich Hals über Kopf in die Insel und schwor, wiederzukommen.»
Es folgten eine Reise als Tourist und ein Jahr mit Jobs in einer Gärtnerei und auf einem Bauernhof. Schmidt hat zwar Hochbauzeichner gelernt, ist aber als Bauernsohn in Cazis am Heinzenberg aufgewachsen. Dies dürfte ihm beim Einsatz in Island geholfen haben. Jedenfalls hielt er den Winter aus und zog 2007 auf die Insel, um zu bleiben.
Gletschereis, Wind und Wetter in einer so grossartigen wie unwirtlichen Landschaft sind nicht nur Island zu eigen, sondern auch den Alpen. Windsbräute, Wildmandli und alle möglichen Berggeister tummeln sich hier – bei unseren Vorfahren galten auch sie als ruhelose Seelen. «Ich glaube, dass Mythen und Sagen überall da florieren, wo der Mensch einer übermächtigen Natur gegenübersteht», erklärt Schmidt. «Wo Menschen spurlos verschwinden können, ob sie nun ins Meer oder in eine Gletscherspalte gefallen sind, da muss man sich die Antworten eben selber geben.»
Der wahre Fährmann
Ósmann selbst ist kein Fabelwesen, auch keine literarische Schöpfung. Der Fährmann, Robbenjäger, Trinker und Dichter hat tatsächlich an der Flussmündung zum Skagafjord gelebt.
Zwei Frauen und drei Kinder hat er verloren, Freunde in Stürmen ertrinken sehen. Sein Antrag, eine Brücke über die Flussmündung zu bauen, um am Rand der Zivilisation Menschenleben zu retten, wurde von den damals noch dänischen Behörden abgelehnt: zu teuer, nicht wichtig genug.
Auch in den Dörfern der kaum erschlossenen Schweizer Berggebiete starben die Menschen zu Ósmanns Zeit in Unwettern, die Frauen beim Gebären und die Kinder, bevor sie laufen konnten. Nicht selten verhinderten auch hier die fehlende Infrastruktur das Überleben.
Der Fährmann Jón Magnússon und sein tragisches Ende im Eiswasser
Jón Magnússon Ósmann beging 1914 Suizid im Eiswasser, über das er 40 Jahre lang Einheimische, Reisende und Forscher geführt hatte. Dass er sich nach der einst am Strand gefundenen Robbenfrau gesehnt haben soll, dürfte wohl der literarischen Freiheit des Autors und dessen Hang zur Romantik geschuldet sein.
Doch Schmidt konnte sich auf die Erzählungen von Ósmanns Nachfahren und ein Notizbuch stützen, dem der Fährmann seinen Schmerz und seine Verse anvertraut hatte; und auf Kristmundur Bjarnasons Biografie von 1974.
Geschickt flicht der Autor auch Vorboten der Moderne mit ein, etwa die Verlegung unterseeischer Telefonkabel vom europäischen Festland nach Island. Der Fortschritt jedoch vertrieb die Geister.
«Es sind schliesslich Wesen, die stark mit der Natur verbunden sind», sagt Schmidt, «und diese Natur fällt heute dem Kapitalismus zum Opfer, auch in Island. Gegen die Schwerindustrie, norwegische Aquakulturen und riesige Strassenbauprojekte kommen selbst die Elfen nicht mehr an». Gut, gibt es Literatur, die zuweilen an sie erinnert.*
*Dieser Text von Tina Uhlmann, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.