Ostschweiz: Nirgendwo gehen so wenige Knaben in die Kanti wie hier
Bei der Maturaquote in der Ostschweiz steigt der Mädchen-Anteil immer weiter an. Knaben haben hingegen einen schweren Stand an der Kanti.
Das Wichtigste in Kürze
- Die Unterschiede bei der Maturaquote zwischen Frauen und Männern sind landesweit gross.
- In der Ostschweiz ist sie bei den Mädchen mancherorts sogar fast doppelt so hoch.
- Die Experten-Meinungen zu den Gründen hierfür sind vielschichtig.
Schweizweit haben 27.5 Prozent aller Frauen bis 25 Jahren einen Kanti-Abschluss. Dies zeigen die neuesten Zahlen des Bundesamtes für Statistik. Bei den Männern sind es per Ende 2022 nur 18.5 Prozent.
Der Graben zwischen den Geschlechtern bei der gymnasialen Matura wächst immer weiter, berichtet das «St. Galler Tagblatt». Seit 1994 sind Mädchen bei den Matura-Abschlüssen in der Mehrheit. Und ihr Anteil wächst immer weiter an.
Vor allem in der Ostschweiz!
Nirgendwo gehen so wenige Knaben in die Kanti wie hier. Im Thurgau ist die Quote bei den Mädchen beispielsweise fast doppelt so hoch. Dadurch hat der Kanton sogar seinen grösseren Nachbarn St. Gallen überholt.
Nur in Nidwalden, Uri und Appenzell Ausserrhoden gehen noch weniger junge Menschen aufs Gymnasium – gemessen an der Bevölkerung.
Christof Widmer vom Thurgauer Amt für Mittel- und Hochschulen überrascht dieser Trend allerdings nicht. «Diese Entwicklung geht in der Regel mit dem Wunsch nach einer höheren Schulbildung einher», sagt er. Widmer beobachte schon seit längerem, dass das Gymnasium Mädchen stärker anspreche als Knaben.
Potenzial bei Knaben nicht ausgeschöpft
Ähnlich sieht die Situation im Kanton St. Gallen aus. Vor fünf Jahren kündigte Tina Cassidy, Leiterin des Amtes für Mittelschulen, an, dass gezielt Informations- und Sensibilisierungskampagnen durchgeführt werden sollen. «Weil wir davon ausgehen, dass das bei ihnen das vorhandene Potenzial nicht ausgeschöpft ist», sagte sie damals.
Doch passiert ist seitdem wenig. Knaben bleiben mit einem Anteil von rund 39 Prozent an St. Galler Mittelschulen deutlich in der Minderheit.
Über die Gründe hierfür spekulieren Experten.
Laut Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm könnten die Bildungsunterschiede auf den Lehrplan 21 zurückzuführen sein. Dieser fördert Kompetenzen wie «aufeinander eingehen, einander zuhören und sich emotional einbringen», erklärt sie. «Ich vermute, dass das männliche Geschlecht mit dem gegenwärtigen Trend mehr Probleme hat als Mädchen.»
Auch spielt die langsamere Reifung der Knaben eine Rolle. «Die Forschung zeigt, dass sich Mädchen in der Tendenz schneller entwickeln», so Stamm weiter. Ab Mitte Primarschule würden sie zu den Minderleistern gehören. Denn bei ihnen gilt Schulerfolg als «unmännlich».
Als «cool» hingegen gilt, wer im Unterricht auffällt und das Mittelmass pflegt. Stamm erklärt: «Darum passen sie weniger auf, stören öfter den Unterricht und machen seltener Hausaufgaben».
Lehre ist attraktiver
Nicht alle Erklärungen sind aber negativ behaftet, führt das «St. Galler Tagblatt» aus.
Marc Lütolf, Rektor der Kantonsschule Burggraben in St. Gallen, sagt, dass für viele Knaben einfach die Lehre der passendere Weg ist. «Sie hat einen guten Stand und sicher auch hohen Stellenwert in der Ostschweiz.»
Bei der Berufsmatura ist das Verhältnis zu Mädchen mittlerweile schweizweit ausgeglichen. Bei den Fachmittelschulen oder der Erwachsenen-Maturität ist der Frauenanteil aber wieder deutlich höher. Im Kanton St. Gallen liegt er teils bei 80 Prozent.
Auch bei der Wahl des Studienfachs zeigt sich ein deutlicher Unterschied zwischen den Geschlechtern. Junge Frauen entscheiden sich oft für Geistes- oder Sozialwissenschaften, Medizin oder Rechtswissenschaften.
In all diesen Disziplinen pendelt ihr Anteil für das Schuljahr 2021/22 zwischen 61 Prozent und 72 Prozent. So steht es im Bildungsbericht des Bundes.
Fächer wie Physik, Mathematik oder Wirtschaftswissenschaften bleiben dagegen fest in Männerhand.
Stellt sich die Fragen, was getan werden kann, um ein ausgeglicheneres Geschlechterverhältnis zu erreichen. Laut Christof Widmer und Tina Cassidy steht nicht die Quote, sondern das Erreichen von Bildungsmöglichkeiten im Vordergrund.
Margrit Stamm hingegen fordert eine Lobby für Knaben-Anliegen in Schulen. «Zum Beispiel, wenn es darum geht, den Bewegungsdrang dieser zu fördern, aber ihn nicht zu disqualifizieren», sagt sie.