«Russische Lippen»: Junge wollen unrealistische Beauty-OPs
Junge Menschen haben jetzt schon Angst, alt auszusehen. Das Phänomen – im Netz «Age-Anxiety» genannt – hat viele Gründe. Allen voraus: Social Media.
Das Wichtigste in Kürze
- Die Angst vor dem Altern ist auf Social Media ein grosses Thema.
- Junge Menschen werden von Tiktok und Instagram zunehmend «getriggert», sagen Experten.
- Um langsamer zu altern, legen sie sich eher unters Messer oder kaufen Schönheitsprodukte.
- Manchmal mit schädlichen Auswirkungen.
Der Begriff «Age-Anxiety» nimmt auf Social Media immer grössere Ausmasse an. Es bedeutet so viel wie «Angst vor dem Altern».
Jens Altmann ist Facharzt für plastische Chirurgie und arbeitet seit über 15 Jahren an der Bodenseeklinik mit dem berühmten Prof. Dr. Werner Mang zusammen. Er hat bereits viele Trends, Modeerscheinungen und Phasen miterlebt.
Altmann sagt, es gebe einen «Brandbeschleuniger» für die Angst vor dem Alter: Social Media. «Hypes ‹triggern› und verbreiten sich viel schneller», so Altmann. Und warnt: «Sie sollten aber auch mit grösserer Vorsicht behandelt werden, da viele davon ungeprüft sind.»
Was Altmann und Mang tun, ist wissenschaftlich. Dennoch sei der Anspruch höher – und jünger – geworden. Viele weibliche Patientinnen unter 30 Jahren stellten sich in der Klinik vor und wünschten einen Look wie mediale Influencer. Sie reisen auch aus der Schweiz in die deutsche Bodenseeklinik.
Besonders beliebt sind derzeit sogenannte «russische Lippen», die in keinem Verhältnis zu den Gesichtern der meisten Menschen stehen würden. Altmann: «Das hatten wir vor zehn Jahren nicht so. Die Massreglung geht verloren.»
Retuschierte Bilder verzerren Wahrnehmung
So sagt auch Alexandra Freund von der Universität Zürich, dass die Verbreitung von Bildern von Menschen, die einem bestimmten Schönheitsideal entsprechen, «enorm zugenommen» hat.
Sie warnt, dass diese oft sehr retuschiert sind und die Wahrnehmung verzerren. Und Schönheits-OPs sowie kosmetische Behandlungen seien inzwischen «sozial akzeptierter», führt die Expertin für Entwicklungspsychologie aus.
Damit wachse der Druck, sich vom Aussehen her zu optimieren und die allgemeinen Anzeichen des Alterns verschwinden zu lassen. Zum Beispiel das nachlassende Gewebe – Brust, Bauch, Po – zu straffen, liften oder polstern. Denn das höhere Alter sei mit negativen Stereotypen belegt. «Zu dieser negativ beurteilten Gruppe wollen Menschen nicht gehören», sagt Freund.
Die positiven Seiten – die Lebenserfahrung, Sozialkompetenz, über Jahrzehnte gewachsene Beziehungen – werden demnach dabei übersehen.
Unverhältnismässige Anfragen wegen Social Media
Die Bodenseeklinik arbeitet laut Altmann hart daran, diese Denkweise nicht zu fördern. Etwa zehn bis 20 Prozent der Anfragen, die sie erhält, würde man ablehnen. «Patientinnen, die etwas Unverhältnismässiges wollen, schicken wir alle weg», sagt Altmann. Also diejenigen, die sich Eingriffe vorstellen und verlangen, die nicht sinnvoll seien.
«Leider stellen sie sich dann anderweitig vor – und lassen sich dort behandeln», so Altmann. Zwar würde er alles tun, um sicherzustellen, dass Frauen, die zu ihm kommen, über die Gefahren der breiten Palette an Produkten und Prozeduren aufgeklärt werden.
Aber die Entscheidung liege schliesslich bei ihnen. Entsprechend nehme die Anzahl an Korrektiv-OPs zu.
Anreiz, die Angst zu kultivieren
Wie Christopher Hopwood von der Universität Zürich sagt, haben auch Unternehmen in der Beauty-Branche «einen Anreiz, die Angst vor dem Alter zu kultivieren». Denn das erhöhe die Motivation der Menschen, Produkte zu kaufen, die sie jünger aussehen lassen. Oder sich Prozeduren zu unterziehen.
Ein Trend, der in einem reichen Land wie der Schweiz besonders auffällig sein dürfte. «Wohlhabendere Menschen haben im Allgemeinen mehr Möglichkeiten, auf eine bestimmte Art und Weise auszusehen», sagt Hopwood. Das heisse aber nicht, dass diese genutzt werden sollten.
«Die Wahrheit ist: Social Media kann grossartig sein. Bei richtiger Anwendung und guter Recherche. Aber es gibt auch viele Fehlinformationen da draussen», sagt Altmann abschliessend.