Schweizer Eltern setzen Kinder aus und fahren davon
Drohungen, Erniedrigungen, Beschimpfungen – seit Corona hat sie wieder zugenommen: psychische Gewalt in der Erziehung. Was Betroffene durchmachen müssen.
Das Wichtigste in Kürze
- Immer mehr Kinder werden in der Schweiz Opfer von psychischer Gewalt.
- Das geht so weit, dass einige Eltern ihre Kinder regelmässig aussetzen oder aussperren.
- Für die Kinder kann das langfristige Folgen haben.
Psychische Gewalt gegen Kinder nimmt in der Schweiz wieder zu. Das zeigen neue Zahlen der Universität Freiburg: Jedes fünfte Kind ist regelmässig betroffen.
Auffällig ist laut Regula Bernhard Hug, Leiterin von Kinderschutz Schweiz, dass insbesondere die Regelmässigkeit zugenommen hat. «Vor Corona gingen die Zahlen immer zurück, seither steigen sie wieder», sagt sie zu Nau.ch.
«Es fängt dort an, wo man dem Kind absichtlich Angst einjagt. Ihm zum Beispiel droht, ihm Schmerzen zuzufügen, es gar auszusetzen oder ins Kinderheim zu bringen.» Kinder würden lächerlich gemacht, erniedrigt, als wertlos bezeichnet.
1,2 Prozent setzen oder sperren Kids regelmässig aus
Doch damit nicht genug: 2,8 Prozent der Befragten geben an, ihr Kind schon für längere Zeit ausgesperrt oder unterwegs ausgesetzt zu haben. 1,2 Prozent davon tun es sogar regelmässig. Für längere Zeit – heisst: Die Eltern gehen oder fahren sogar weg.
«Das sind 12 von 1000 Eltern. Diese Zahl ist überraschend gross», sagt Bernhard Hug.
Sie geht von einer hohen Dunkelziffer aus, da für diese Studie die Eltern befragt wurden. «Erfahrungsgemäss sind solche Zahlen höher, wenn man die Betroffenen selbst befragt.»
Eltern schmeissen Spielzeuge zur Strafe in den Müll
Mit psychischer Gewalt in der Erziehung sieht sich auch der Berner Familienbegleiter Kaspar Padel immer wieder konfrontiert. Seine Erfahrung zeigt: «Die Frage, wann psychische Gewalt kindeswohlgefährdend ist, ist viel schwieriger zu beantworten als bei anderen Gewaltformen.»
Ein Beispiel, an das er sich erinnert, ist die Familie A: Der Vater ist Lehrlingsausbildner, die Mutter hat ein kleines Pensum als Sekretärin und der Sohn geht in die 4. Klasse.
Beim Sohn wird ADHS vermutet – in der Schule hat er Konzentrationsschwierigkeiten und bringt eher unterdurchschnittliche Leistungen. Das wollen die Eltern nicht akzeptieren. Sie fordern bessere Noten und lösen nach der Schule oft lange mit ihm Zusatzaufgaben.
Bringt der Sohn aus ihrer Sicht ungenügende Noten nach Hause, verbieten sie ihm Computerspiele und Fernsehzeit. «Teilweise wurden ihm auch schon Spielsachen zur Strafe in den Müll geworfen», erzählt Padel.
Verhält sich der Bub zu Hause «daneben», wird er ähnlich drastisch bestraft: «So haben sie ihn einmal am Samstagmorgen um 5 Uhr geweckt, um mit ihm auf einen Berg zu wandern.»
«Entwicklung gefährdet»
Familienbegleiter Padel erinnert sich: «In dieser Situation war es zunächst einmal wichtig, den Eltern eine andere Perspektive auf ihr Kind zu ermöglichen. Ich habe unter anderem erklärt, welche Auswirkungen ADHS auf die Alltagsbewältigung ihres Sohnes haben kann.»
Zudem habe er aufgezeigt, dass die Lernleistung ab einem gewissen Punkt eher abnimmt, wenn man Kinder zu lange lernen lässt.
Die Folgen der Strafen habe er klar beim Namen genannt: «So wird die Entwicklung ihres Sohnes und die Eltern-Kind-Beziehung gefährdet. Zum Beispiel eben, wenn sie Spielsachen wegwerfen.»
In diesem Fall hätten die Eltern sehr aktiv mitgearbeitet. «Dies ist jedoch nicht in allen Situationen der Fall.»
Folgen können gravierend sein
Psychische Gewalt kann gravierende Langzeitfolgen mit sich bringen, warnt auch Regula Bernhard Hug: «Gerade, wenn sie besonders intensiv oder regelmässig ist. Man stellt sich vor, ein vierjähriges Kind wird draussen ausgesetzt und die Eltern fahren davon. Das ist ein massiver Fall von psychischer Gewalt, der langfristige Folgen haben kann.»
Folgen, die genauso schlimm sein können wie die Folgen körperlicher Gewalt. Es fängt an bei Schwierigkeiten in der Schule und geht bis hin zu erhöhten Risiken für Sucht, Depressionen und Suizid. «Betroffene haben zudem ein erhöhtes Risiko, selbst keine gesunden Beziehungen führen zu können.»
Eltern erlebten meist selbst als Kind psychische Gewalt
Dahinter steht laut Bernhard Hug «meist Überforderung in Stresssituationen». Und ein Elternteil, das selbst als Kind psychische Gewalt erlebt hat. «Es passiert in Situationen, in denen die Eltern die Kontrolle verlieren», sagt sie.
Um diesen Punkt vermeiden zu können, sei es wichtig, dass Eltern für sich herausfinden, wie sie sich beruhigen können. «Einige gehen kurz aus dem Zimmer, andere machen einen Spaziergang und wieder andere lassen den Partner oder die Partnerin übernehmen.»
Wichtig sei mehr Sensibilisierung zum Thema.
Keine Hemmungen und resigniertes Verhalten
Die Anzeichen, dass ein Kind psychische Gewalt erlebt, sind laut Kaspar Padel oft schwer zu erkennen. Aber: «Was mich oft stutzig macht, ist, wenn Kinder bei einem ersten Kontakt absolut keine Hemmungen mir gegenüber zeigen.»
Solches Verhalten könne auf eine Bindungsstörung hindeuten – und die wiederum werde unter anderem auch durch psychische Gewalt ausgelöst.
Auch gegenteiliges Verhalten kann ein Anzeichen sein. «Zum Beispiel, wenn Kinder kaum Emotionen zeigen und eher mechanisch auf Anweisungen reagieren. Sie haben gelernt, einfach auszuführen, was sie hören und knüpfen keine Erwartungen mehr an Dinge.»
Das seien jedoch Extrembeispiele. Es gebe auch kleinere Verhaltensweisen, die durch psychische Gewalt begünstigt werden können. Etwa regelmässiges Lügen, Gewalt als Konfliktlösung oder mangelnde Impulskontrolle.
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