Schweizer Teenies schliessen Lehrvertrag ab – und tauchen nicht auf
Bei deutschen Ausbildungsplätzen ist «Ghosting» ein Problem geworden – Lernende erscheinen einfach nicht. Auch Schweizer Lehrbetriebe bleiben nicht verschont.

Das Wichtigste in Kürze
- In Deutschland treten immer mehr Auszubildende eine vereinbarte Stelle nicht an.
- Laut einer Umfrage ist jeder vierte befragte Betrieb von «Ghosting» betroffen.
- Auch im Schweizer Detailhandel nimmt dieses Phänomen laut Branchenverband zu.
- Andere kämpfen damit, dass sich künftige Lehrlinge kurzfristig fürs Gymnasium entscheiden.
«Ghosting» bei Auszubildenden wird für immer mehr Betriebe in Deutschland zum Problem. Darunter versteht man das Nichtantreten einer vereinbarten oder in Aussicht gestellten Lehrstelle.
2023 hat bereits jeder vierte befragte Betrieb darüber berichtet, dass diese Bewerber einfach abspringen. Das teilte das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg vor Kurzem mit.
Und wie sieht es in der Schweiz aus? Nau.ch hat bei mehreren Branchenverbänden sowie kantonalen Erziehungs- und Bildungsdirektionen nachgefragt.
«Ghosting» nimmt bei Lehrbetrieben im Detailhandel zu
«In der Tat hat das Phänomen des ‹Ghosting› in den letzten paar Jahren zugenommen», bestätigt Dagmar Jenni. Sie ist Direktorin der Swiss Retail Federation, dem Verband der Detailhandelsunternehmen.
«Wir haben aber keine fundierten und belastbaren Zahlen zu der Anzahl an Fällen und deren Gemeinsamkeiten.» Aus der Sicht der Lehrbetriebe sei es natürlich eine unangenehme Situation, weil die betriebliche Planung und Vorbereitungsarbeiten entsprechend ausgelegt wurden.
«Aber auch aus Sicht der anderen Bewerber für diese Lehrstelle ist es unfair. Ihnen hat man unter Umständen eine valide Chance genommen», ergänzt Jenni.
Wie aber gehen Betriebe vor, wenn jemand für eine Stelle zugesagt hat und dann doch nicht kommt? Die Swiss Retail Federation empfehle solchen Lehrbetrieben, die Ressourcen dann lieber für eine Neubesetzung der Lehrstelle einzusetzen.
«Zum Beispiel die im Verfahren zweite Wahl umgehend zu kontaktieren. Statt rechtliche Schritte zu prüfen – selbst wenn das theoretisch möglich wäre.»
«Ghosting» in Tech-Industrie «absolute Ausnahmefälle»
Auch bei Swissmem, dem Verband der Schweizer Tech-Industrie, kennt man das «Ghosting»-Phänomen: «Es gibt Einzelfälle, es ist aber unseres Wissens in der Schweizer Tech-Industrie kein weitverbreitetes Problem», sagt Mediensprecher Noé Blancpain.
Man verfüge zwar nicht über Zahlen. Aber: «Das dürften absolute Ausnahmefälle sein.»
Er fügt hinzu: «Hingegen kommt ab und zu vor, dass Jugendliche die Aufnahmeprüfung für die Kantonsschule bestehen. Und sich deshalb rund ein halbes Jahr vor Lehrantritt zurückziehen.»
Weniger bekannt ist «Ghosting» im kaufmännisch-betriebswirtschaftlichen Bereich, wie Sabrina Kindschi vom Kaufmännischen Verband Schweiz erklärt. «Allerdings wissen wir aus Rückmeldungen von Lehrbetrieben, dass Jugendliche teils trotz unterschriebenen Lehrvertrags noch die Aufnahmeprüfung ans Gymnasium absolvieren.»
Gymi-Aufnahmeprüfungen als Problem
Diese würden jeweils erst im Frühjahr stattfinden. «Beim Bestehen entscheiden sie sich dann für den gymnasialen Weg und treten die Lehrstelle nicht an.»
In solchen Fällen werde in der Regel eine Vertragsauflösung beantragt. Dies oft durch die Eltern, da diese als gesetzliche Vertreter der minderjährigen Jugendlichen ebenfalls Vertragspartei seien. Mit Folgen.
«Für Lehrbetriebe entsteht zusätzlicher Aufwand sowie eine gewisse Planungsunsicherheit: Sie haben nicht nur Zeit und Ressourcen in den Rekrutierungsprozess investiert. Sondern auch in die Vorbereitung der Ausbildung und die Integration der zukünftigen Lernenden», sagt Kindschi.
Dazu würden etwa die Zuteilung von Betreuungspersonen, die Planung von Einführungstagen oder spezifische Schulungen für den Lehrbeginn gehören.
Sie ergänzt: «Wenn eine Stelle kurzfristig unbesetzt bleibt, bedeutet dies nicht nur erneuten Rekrutierungsaufwand. Sondern auch eine erhebliche organisatorische Herausforderung. Zudem sinkt die Chance, zu diesem Zeitpunkt noch eine geeignete Person für die Lehrstelle zu finden.»
Laut Kindschi wäre es dem Lehrbetrieb rechtlich möglich, eine Entschädigung für den Vertragsrücktritt einzufordern. «In der Praxis geschieht dies jedoch selten.»
Kein Thema in Baubranche
Weniger bekannt scheint «Ghosting» bei Lehrbetrieben der Baubranche zu sein. «Dieses Phänomen ist nach Auskunft aller von mir befragten Unternehmerinnen und Unternehmer im Maler- und im Gipsergewerbe nicht bekannt.» Das erklärt Raphael Briner, Medienverantwortlicher beim Schweizerischen Maler- und Gipserunternehmer-Verband (SMGV).
Was vorkomme, sei, dass Schüler nicht zu abgemachten Schnupperlehren erscheinen. «Ist dann aber ein Lehrvertrag abgeschlossen, kneift niemand.»

Adrian Dinkelmann, Geschäftsführer von Infra Suisse, der Branchenorganisation der im Infrastrukturbau tätigen Unternehmen, sagt dazu: «Das Phänomen des ‹Ghosting› ist mir zwar bekannt, aber im Verkehrswegbau sind uns keine Auffälligkeiten oder eine Zunahme berichtet worden.»
Und wie sieht es bei Informations- und Kommunikationstechnologie-Unternehmen aus? «Dass Jugendliche kurzfristig aus einem Lehrverhältnis zurücktreten, kommt im ICT-Berufsfeld vereinzelt vor», sagt Elisa Marti, Mediensprecherin von ICT-Berufsbildung Schweiz.
«In diesen Fällen halten sie sich meist verschiedene Optionen frei. Sei es der Eintritt ins Gymnasium nach bestandener Prüfung oder eine andere Lehrstelle.» Dies sei jedoch keine neuere Erscheinung.
Basel-Stadt sind zwei «Ghosting»-Fälle bekannt
Während das Zürcher Mittelschul- und Berufsbildungsamt keine Statistik zu dem Phänomen führt, sieht das beim Kanton Basel-Stadt anders aus: «Ja, das sogenannte ‹Ghosting› ist uns bekannt», erzählt Sandra Eichenberger vom Erziehungsdepartement des Kantons.
Es könne sowohl vor Beginn der Lehre (wenn jemand nicht zur Vertragsunterzeichnung erscheint) als auch nach Vertragsunterzeichnung vorkommen. «Der Lehraufsicht Basel-Stadt sind derzeit zwei solche Fälle bekannt.»

Die Teenies informieren dann den Lehrbetrieb nicht und sind für den Betrieb auch nicht mehr erreichbar. So können die Betriebe allenfalls die Lehrstelle nicht mehr fristgerecht bis Lehrbeginn besetzen.
«Dadurch können erhebliche Mehrkosten entstehen.» Rechtlich bestehe zwar die Möglichkeit, die lernende Person auf Schadensersatz zu belangen. Aber «in der Praxis wurde bisher davon nicht Gebrauch gemacht».
Im Aargau wurden zwei Prozent der Lehrverträge vor Beginn aufgelöst
In den Kantonen Bern und Luzern sind den entsprechenden Behörden hingegen keine «Ghosting»-Fälle bekannt.
Sascha Giger vom Departement Bildung, Sport und Kultur des Kantons Aargau erklärt auf Anfrage: «Im Aargau werden rund zwei Prozent der Lehrverträge (2024: 122 nicht angetretene Lehrverhältnisse von total 6173 Lehrverträgen) vor Lehrbeginn aufgelöst.»
Ob in diesen Fällen tatsächlich von «Ghosting» gesprochen werden könne, sei nicht ganz eindeutig. «Die meisten Auflösungen werden uns noch vor Lehrbeginn gemeldet.»