Schweizer überrennen Notfallstationen – nicht wegen Covid

Matthias Bärlocher
Matthias Bärlocher

Bern,

Der höchste Notfallmediziner der Schweiz warnt: Auf den Notfallstationen kommt das Personal wegen Patienten-Höchstzahlen kaum mehr nach.

Aristomenis Aris Exadaktylos Notfallstationen
Prof. Dr. med. Aris Exadaktylos ist Co-Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Notfall- und Rettungsmedizin sowie Direktor und Klinikleiter der Notfallstation des Berner Inselspitals. - zvg

Das Wichtigste in Kürze

  • Die Schweizer Notfallstationen verzeichnen einen Patienten-Ansturm.
  • Kommen nun noch mehr Covid-Patienten hinzu, fehlen Ressourcen.
  • Der oberste Notfall-Mediziner warnt: Das Personal braucht Pausen!

Mit Szenarien und Hochrechnungen versuchen die Kantone abzuschätzen, wie lange die Kapazitäten auf den Intensivabteilungen noch reichen. Doch in einem anderen Bereich ist das Gesundheitssystem bereits hart am Limit: Die Notfallstationen erleben einen Patienten-Ansturm. Mehr Patienten denn je – längst nicht nur Covid-Fälle – benötigen dringend Hilfe. Sind erste Abklärungen erfolgt, haben aber die Spital-Abteilungen keine Betten, um neue Patienten aufzunehmen. Der Rückstau in den Notfallstationen nimmt dadurch weiter zu.

Professor Aris Exadaktylos ist Co-Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Notfall- und Rettungsmedizin und Direktor und Chefarzt der Notfallstation des Inselspitals. Gegenüber Nau.ch erläutert er die Hintergründe für die anhaltende Nicht-Covid-Welle in den Notfall-Kliniken. Aber auch, was es braucht, um den Kollaps zu verhindern, wenn darauf hinauf noch eine Covid-Welle dazukommt.

Intensivbetten Auslastung Schweiz
Um die drohende Überlastung des Gesundheitswesens zu messen wird üblicherweise die Auslastung der Intensivbetten herangezogen. Auch diese ist im Steigen begriffen. - icumonitoring.ch

Nau.ch: Vor rund einem Jahr haben Sie davor gewarnt, dass die «Feuerwehrübungen», Test-Angebote und ansteigenden Fallzahlen die Notfallstationen ans Limit bringen. Wie haben Sie dieses Jahr mit zweiter und dritter Welle und anschliessender Lockerung der Massnahmen bewältigt?

Aris Exadaktylos: Wir hatten leider recht. Die Situation hat allen sehr viel abverlangt. Spitäler und die Mitarbeitenden sind physisch und psychisch an die Grenzen gegangen und manchmal noch darüber hinaus. Und wir haben immer gehofft, dass es reicht.

Nau.ch: Wird es bei einer vierten oder fünften Welle wieder reichen?

Aris Exadaktylos: Es ist wie an der Fussball-EM: Nachdem man als Team gekämpft und alles nach vorne geworfen hat, gewinnt man gegen einen übermächtigen Gegner dann doch noch im Penaltyschiessen. Ich habe aber das dumpfe Bauchgefühl, dass wir beim nächsten Aufeinandertreffen leider weniger Glück haben werden.

Nau.ch: Das heisst, nicht nur auf den Intensivstationen, auch beim Notfall wird es bereits wieder eng?

Notfallstation Universitätsspital Zürich USZ
Der Eingang zur Notfallstation des Universitätsspitals Zürich USZ, fotografiert am 19. November 2020. - Keystone

Aris Exadaktylos: Insbesondere auf den grösseren Notfallstationen liegen die Zahlen deutlich über dem Spitzenjahr 2019. Das sind 10-20 Prozent mehr als wir in den Jahren vor der Pandemie zu Spitzenzeiten hatten.

Nau.ch: Ist das schweizweit ein Problem?

Aris Exadaktylos: Nicht nur schweizweit, es zeigt sich auch international. Ähnliches wird aus Europa und auch den USA berichtet.

Nau.ch: Wie kommt es dazu? Es gibt ja wohl nicht 20 Prozent mehr Kreislaufstörungen oder Verkehrsunfälle.

Universitätsspital Basel Predigerkirche Notfallstation
Der Hinweis an der Eingangstüre, dass die Predigerkirche als Notaufnahme der Notfallstation des Universitätsspitals Basel für Coronavirus-Abklärungen umgewandelt worden ist, in Basel, am Mittwoch, 4. März 2020. - Keystone

Aris Exadaktylos: Wir erklären uns das so, dass während der Pandemie Patientinnen und Patienten mit chronischen oder komplexen Erkrankungen nicht so oft in die Notfallstationen kamen. Die Notfallstationen sind vor der Pandemie für viele Menschen eine wichtige Anlaufstation für körperliche, aber auch seelische Probleme geworden. Während der «Wellen» haben sich viele nicht getraut, zu uns zu kommen, aus Angst vor Ansteckungen im Spital, oder weil sie das Gesundheitssystem nicht belasten wollten. Wir gehen davon aus, dass nun mehr zu uns kommen, weil die Rückenschmerzen noch schlimmer wurden, die Herzkreislauferkrankungen akuter und so weiter.

Wir haben auch zu spüren bekommen, dass viele Menschen im Sommer in der Schweiz geblieben sind. Auch deshalb sind viel mehr Patienten in unsere Notfallstationen gekommen. Eine Verschnaufpause weniger.

Aber auch unser Personal braucht Pausen, hat Familie – der Druck ist derzeit sehr hoch. Das Personal der Notfallstationen in der Schweiz ist seit 18 Monaten permanent im Einsatz. Und von Entspannung keine Spur.

Rettungssanitäter Schockraum Unfallopfer Inselspital
Ein Unfallopfer wird von Rettungssanitätern in den Schockraum des Inselspitals gebracht. - Keystone

Nau.ch: Die Zahl der Kündigungen hat zugenommen. Spürt man die Unzufriedenheit bei der täglichen Arbeit?

Aris Exadaktylos: Wir versuchen natürlich, auch motivierend tätig zu sein. Jeder, der auf einer Notfallstation arbeitet, weiss, warum er hier ist. Wer bei der Feuerwehr arbeitet, beklagt sich ja auch nicht, dass es brennt – und bei uns brennt es seit 18 Monaten. Wenn es brennt, löschen wir. Aber wenn der Brand mal gelöscht, oder zumindest unter Kontrolle ist, suchen sich viele einen anderen Job, weil ihnen die langfristige Unterstützung fehlt.

Den Menschen zu helfen, ist unser Beruf. Die Wertschätzung ist zwar wichtig, aber diese alleine genügt nicht. Wir wünschen uns, dass dies mehr honoriert wird. Das ist vor allem eine Forderung an die Politik.

Nau.ch: Wo müsste diese denn ansetzen?

Aris Exadaktylos: Es hat zu wenig Kapazitäten auf den Schweizer Notfallstationen und Rettungsdiensten und gleichzeitig auch auf den Abteilungen, um diese Patienten aufzunehmen. Es wurden immer wieder Abteilungen oder kleinere Spitäler geschlossen und wir merken jetzt: Es gibt zu wenig abgestufte Versorgung. Es hängt dann zu viel an den grösseren Spitälern und Notfallstationen, weil in der Breite nicht genug Ressourcen da sind.

Nau.ch: Die Taskforce und das BAG gehen davon aus, dass die Corona-Fallzahlen noch weitaus höher ansteigen könnten. Das bringt Ihnen noch mehr Patienten.

Aris Exadaktylos: Wir sind in der 4. Welle. Das heisst die Notfallstationen müssen den Ansturm an Nicht-Covid-Fällen plus die zunehmende Anzahl an Covid -Patienten bewältigen können. Das ist eine grosse logistische und medizinische Herausforderung.

Ambulanz Inselspital Notfallstation
Ein Ambulanzfahrzeug trifft am Inselspital ein, beim Eingang zur Covid-Triage und der Notfallstation, während der Corona-Krise, am Samstag, 24. Oktober 2020, in Bern. - Keystone

Nau.ch: Die regelmässig rapportierte Anzahl freier Intensivbetten vermittelt also nur einen Teil des Bildes zur Beurteilung der Belastung des Gesundheitssystems.

Aris Exadaktylos: Während der 1. und 2. Welle wurde viel von den Intensivstationen berichtet, zu Recht. Aber auch die Notfallstationen und Rettungsdienste waren immer im Einsatz und sind im Moment noch sehr viel stärker belastet.

Covid-Patienten brauchen eine sehr intensive Betreuung, auch wenn sie nicht auf eine Intensivstation müssen. Während der 1. und 2. Welle konnten die Spitäler sehr viele Ressourcen aus anderen Abteilungen, welche z.B. geschlossen wurden, bereitstellen. Jetzt haben wir diesbezüglich einen hohen räumlichen und medizinischen Aufwand, weil der normale Spitalalltag weiterläuft. Das zieht sich durchs ganze Spital durch, von den Notfallstationen bis zu den Abteilungen.

Coronavirus Genf
Pflegefachpersonal betreut einen Covid-Patienten am Universitätsspital in Genf. - Keystone

Dadurch erhöht sich der Druck auf die Notfallstationen noch mehr, weil die Patienten nicht so schnell wie üblich auf den Abteilungen untergebracht werden können. Man kann ja keinen Covid-Patienten neben jemanden mit Blinddarmentzündung legen. Die Pflege ist sowohl auf den Notfallstationen als auch auf den Abteilungen extrem hohem Druck ausgesetzt. Und nur an wenigen Orten hat es bisher eine Verbesserung der Bedingungen gegeben. Dort muss in der nächsten Zeit unbedingt etwas passieren.

Als Schweizerische Gesellschaft für Notfall- und Rettungsmedizin sind wir sehr solidarisch mit den Pflegenden und fordern eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen.

Nau.ch: Was können Sie aktuell tun, um den Ansturm zu bewältigen?

Aris Exadaktylos: Wir versuchen, Ressourcen so umzuschichten, dass die Arbeit machbar ist. Aber es ist ein Hochleistungssport, seit Monaten. Wir brauchen im Moment an vielen Orten mehr Personal, damit das bestehende Personal auch Zeit hat, sich zu erholen. Der Markt ist bereits ausgetrocknet. Wenn jetzt noch mehr Leute unzufrieden sind und kündigen, wird es nur umso schwieriger.

Der Nachwuchs bei Notfallpflege und den Notfallärzten lässt sich nur finden, wenn es langfristig vernünftige Arbeitsbedingungen hat. Wenn jemand nach zwei Jahren völlig ausgebrannt ist und nicht mehr kann, bringt das niemandem etwas. Wir leisten Frontarbeit für die Gesellschaft, auf vielen Ebenen. Ich glaube, dort haben der Bund und die Kantone die Pflicht, dass diese Mitarbeitenden körperlich und emotional gesund bleiben.

Herbst und Winter sind so oder so eine schwierige Saison für die Notfallmedizin. Wir haben noch keine Ahnung, wie sich zum Beispiel die Grippe entwickeln wird. Wir können von Bund und Kantonen nur fordern, dass die Notfallstationen für die 4. Welle ausgerüstet sind.

Nau.ch: Das klingt nach «Geld in die Hand nehmen».

Aris Exadaktylos: Es ist gut investiertes Geld. Es kommt jedem von uns in einer Notsituation zugute. Dafür braucht es ganz klar eine Stärkung der Rettungsketten. Von Hausärzten über Rettungsdienste bis zu den Notfallstationen, aber auch den Abteilungen, die sich mit akut Kranken beschäftigen. Personal, Ausrüstung, Räumlichkeiten – das ist bei jeder Notfallstation ganz unterschiedlich. Die Gesundheitsdirektionen und die Spitäler müssen auf die Notfallstationen zugehen und fragen: Was braucht ihr für die dunkle Jahreszeit?

Wenn es sich ein Land leisten kann, dann die Schweiz.

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