Streit um Astrazeneca: Wird die Gefahr der Pille unterschätzt?
Das Wichtigste in Kürze
- Neun bis zwölf von 10'000 Frauen, die die Pille nehmen, erleiden eine Thrombose.
- Die Zahlen zu einem möglichen Thrombose-Risiko durch Astrazeneca sind wesentlich tiefer.
- Dennoch wird die Impfung vielerorts gestoppt. Ein Experte ordnet die Zahlen ein.
Der Astrazeneca-Impfstopp hat eine Debatte über das Risiko der Pille ausgelöst: Anders als bei der Impfung gegen das Coronavirus ist hier ein erhöhtes Thrombose-Risiko seit Jahren nachgewiesen. Dennoch wird die Pille weiterhin vielen Frauen verschrieben – was hat es damit auf sich?
Zuerst die Zahlen: In Deutschland gibt es rund vier Fälle von Thrombosen auf eine Million Astrazeneca-Geimpfte, wie der «Spiegel» schreibt. Bislang ist noch kein Zusammenhang zwischen den Blutgerinnseln und dem Impfstoff nachgewiesen worden.
Würden Sie sich mit dem Astrazeneca-Vakzin impfen lassen?
Deutlich höher sind die Zahlen bei der Pille: neun bis zwölf von 10'000 Frauen, die mit einem Hormonpräparat der neuesten Generation verhüten, erleiden eine Thrombose. Von 10'000 gesunden Frauen, die die Pille nicht schlucken, trifft es laut der Europäischen Arzneimittelbehörde nur etwa zwei.
Doch so einfach ist es offenbar nicht. «Nicht einmal der Vergleich von Äpfeln und Birnen hält dem ganzen Stand», meint Gynäkologe Thomas Eggimann dazu. Es seien zwar zwei medizinische Produkte, aber der Vergleich hinkt aus seiner Sicht.
Länger auf dem Markt und besser erforscht
Der Impfstoff von Astrazeneca sei wie alle anderen Corona-Vakzine neu auf dem Markt. Daher sei die Sorge vor negativen Entwicklungen bei diesem Arzneimittel viel grösser als bei der Pille.
Das Verhütungsmittel ist im Vergleich seit Jahren auf dem Markt und die Wirkung besser erforscht. Man wisse, welche Risiken zu beachten sind und kann danach vorgehen, meint Eggimann.
Im Fall der Astrazeneca-Impfung ist die Forschung noch nicht auf derselben Stufe. Sechs deutsche Frauen erlitten kurz nach der Impfung eine Sinusvenenthrombose, deren Gerinnsel eine Hirnvene blockierten. Für drei Frauen endete das tödlich, wie das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) bekannt gab.
Daher wird das Vakzin derzeit ausgesetzt. Um die Zusammenhänge zu prüfen, das Risiko bei erwiesener Kausalität neu abzuschätzen und das eventuell in der Fachinformation festzuhalten. Bei der Pille treten Sinusvenenthrombose nur sehr selten auf.
«Meisten Risikofälle werden im Voraus erfasst»
Unterschätzt, wie das viele Frauen nach der Astrazeneca-Sistierung anprangerten, werde die Gefahr der Anti-Baby-Pille nicht. «Das Ganze wird alles andere als verharmlost», sagt Eggimann.
Es würden mit allen Patientinnen Abklärungen vorgenommen. Eggimann: «Dazu gehören eine vertiefte Familienanamnese, eine persönliche Anamnese und die Beurteilung phänotypischer Merkmale sowie des Rauchverhaltens. So werden zum Glück die meisten Risikofälle im Voraus erfasst.»
Eine kleine Gefahr besteht aber trotzdem. Es gebe immer wieder tragische Fälle mit unglücklichen Faktoren, die Einfluss nehmen. «Für die Betroffenen einfach nur elend», sagt Eggimann.
In der Schweiz verhütet zwar noch immer jede dritte Frau im Alter von 15 bis 49 Jahren mit der Anti-Baby-Pille. Die Tendenz zeigt aber nach unten. «Die Pille verliert durch das Gesundheitsrisiko etwas an Gewicht in der Schweiz», beobachtet Eggimann.
Frauen in der Schweiz vergleichsweise Pillen-skeptisch
Die Zahlen stützen seine Aussage: Eine im Februar 2021 veröffentlichte Umfrage zeigt, dass immer mehr Frauen hierzulande auf Verhütungs-Alternativen setzen.
1992 nahmen noch 52 Prozent der Frauen die Pille, 2017 waren es noch 33 Prozent. Besonders bei Frauen unter 35 ist die Zahl rückläufig: 1992 schluckten 67 Hormone, 2017 noch 45 Prozent.
Interessant ist auch, dass die Frauen in der Schweiz in Sachen Verhütung sensibilisierter sind als im nahen Ausland: Im Vergleich verhüten sie nicht nur anteilsmässig mehr, sie benützen auch öfters das Kondom als Frauen in Frankreich oder Deutschland. Dort werden hingegen häufiger die Pille und die Spirale angewendet.