Urs Faes erfindet in «Sommerschatten» ein Leben neu

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Bern,

Im Bücherfrühling sticht «Sommerschatten» von Urs Faes hervor – ein Roman, in dem eine komatöse Frau in den Erinnerungen ihres Geliebten weiterlebt.

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Diesen Bücherfrühling dominieren Lebensgeschichten die Neuerscheinungen. (Archivbild) - depositphotos

In diesem Bücherfrühling sind Lebensgeschichten omnipräsent. «Sommerschatten» von Urs Faes ist eine davon. In seinem neuen Roman lässt der Autor eine Frau, die im Koma liegt, in den Erinnerungen ihres Geliebten lebendig werden.

Spät im Leben erlebt er nochmals eine Liebe – mit Ina, die ungleich vitaler, aktiver, vielleicht auch jünger ist als er. Ina ist professionelle Cellistin, halbwegs erfolgreich. Und sie praktiziert das Freitauchen, bleibt unter Wasser ohne Atmung, in einer Art Trance.

Bei ihren Tauchgängen geniesst sie nicht nur die natürliche Unterwasserwelt, sondern sie liebäugelt auch mit dem endgültigen Abtauchen, dem Tod. Das wird in Urs Faes' neuem Roman «Sommerschatten» bald klar. Denn so überschwänglich, wie Ina das Leben liebt, so sehr leidet sie auch an Überdruss – «Daseinsüberdruss», wie der Erzähler es nennt und selber kennt.

Er seinerseits taucht dank Ina allmählich aus der Apathie des Krebskranken auf, der Chemotherapie und Bestrahlung über sich hat ergehen lassen und wohl geheilt ist. Aber erschöpft.

Urs Faes und die Liebe: Vom Klinikalltag zur literarischen Erotik

Hier schöpft der Autor aus eigener Erfahrung. Nachdem er 2009 eingeladen worden war, die onkologische Station einer Schweizer Klinik zu beobachten und seine Aufzeichnungen zu einem neuen Umgang mit Krebspatienten führen sollten, schrieb er das Buch «Paarbildung» (2010). Darin empfängt ein Psychotherapeut eine Brustkrebspatientin, mit der er einst eine Liebesbeziehung hatte. Faes schreibt eigentlich immer über die Liebe – und bis heute erotisch.

2012 erkrankte Urs Faes dann selber an Prostatakrebs. «Mit einem Mal erfuhr ich an meinem eigenen Leib, was ich vorher nur geschildert hatte», gab er damals dem Magazin «Aspect» zu Protokoll: «Ungewissheiten, die eigene Gefährdung, meine Hinfälligkeit.» Zu jener Zeit war er 65 Jahre alt. Nun, mit 78, scheint ihn das Thema nach wie vor zu beschäftigen.

Eine Lebensgeschichte aus Erinnerungen am Krankenbett

Doch erfährt man in «Sommerschatten» weniger über das Leben des Erzählers als über dasjenige der geliebten Ina, die nach einem allzu langen Tauchgang im Koma liegt. Er sitzt an ihrem Bett, wacht, spricht zu ihr, liest ihr vor – und erinnert sich. Was er mit ihr erlebt hat, was sie ihm anvertraut hat über ihr Dasein vor ihm, das alles setzt sich im Laufe des Buches zu einer Lebensgeschichte zusammen.

«Ich schreibe über unsere Wege, über das, was wir gelebt haben, mir selber zu sagen, dass es wirklich gewesen ist», reflektiert der Erzähler sein Tun am Bett der Abwesenden. «Und ich weiss dabei immer: Du würdest eine ganz andere Geschichte erzählen. Von dir. Von mir. Von uns beiden. Meine Erzählung ist nur eine mögliche, durchgespielt im unablässigen Ruf nach dir. Sie verrät nicht, was war, und verrät dabei, was gewesen sein könnte.»

Das bedeutet: Das Narrativ, mit dem ein Mensch sein eigenes Leben wiedergibt, ist nicht deckungsgleich ist mit dem, was andere über ihn erzählen. Oder anders: Es gibt keine «wahre» Biografie, weil Wahrheit immer eine Frage der Perspektive ist.

Lebensgeschichten als Mosaik

Nichts ist langweiliger, als ein Leben chronologisch zu erzählen: Geburt, Kindheit, Erwachsenwerden, Glück und Schicksalsschläge, Altern, Tod. Niemand will das lesen. Vielmehr empfehlen Schreibcoaches und Ghostwriter den zahlreichen Laien, die ihre Memoiren für die Nachkommen aufzeichnen wollen, nach dem Clusterprinzip Anekdoten zu einer Art Mosaik zu fügen. Auch professionelle Autorinnen und Autoren greifen zuweilen zu dieser Möglichkeit.

Urs Faes setzt in «Sommerschatten» ganz auf das Erinnerungsvermögen des Ich-Erzählers. Dass die eigentliche Hauptfigur, die Frau, in diesem Roman bis zum Schluss handlungs- und deutungsunfähig bleibt, irritiert, aller Selbstreflexion des männlichen Protagonisten zum Trotz. Aber auch sonst fällt das Buch aus der Zeit – hier erzählt einer ausschweifend schöngeistig, in einer klangvollen, musikalischen Sprache, die sich Zeit nimmt und jede Bedeutungsnuance ausschöpfen will. Urs Faes ist in der Schweiz wohl einer der letzten Autoren dieser Art.

Urs Faes: «Sommerschatten». Roman. Suhrkamp, Berlin 2025. 155 Seiten.

Biografisches Erzählen ist ein Trend unter den aktuellen Neuerscheinungen. Die Vielfalt ihrer literarischen Formen überrascht.

AGNES SIEGENTHALER, «SO NAH, SO HELL»: Eine gute Idee, ein skurriler Plot und eine so präzise wie poetische Sprache machen aus dem Roman «So nah, so hell» einen gelungenen Erstling. Die Protagonistin dringt in verlassene Gebäude ein und nimmt jeweils einen Gegenstand mit, der die Essenz dieser Orte in sich trägt.

In einem Bergdorf zwingt ein Sturm sie, im Haus einer kürzlich Verstorbenen auszuharren, zusammen mit deren einzigem Erben. Anhand der Gegenstände, mit denen das Haus vollgestopft ist, setzt die junge Frau das Leben seiner Bewohnerin allmählich wie ein Puzzle zusammen. Dabei hilft ihr ein altes Hygrometer an der Wand.

Agens Siegenthaler: «So nah, so hell». Roman. Zytglogge, 160 Seiten.

WANDA DUFNER, «BAUCHLANDUNG»: Warum nicht schon mit 33 Jahren eine Autobiografie veröffentlichen? Wenn man wie Wandas Dufner mit 17 Mutter wurde, Illustratorin und Klamottendesignerin ist, resultiert daraus eine grelle Graphic Novel. So erzählt «Bauchlandung» nicht nur die Geschichte einer Teenager-Schwangerschaft, sondern hält auch der moralisierenden Gesellschaft gnadenlos den Spiegel vor. Gut gebrüllt, Löwin!

Wanda Dufner: «Bauchlandung». Graphic Novel. Edition Moderne, 400 Seiten.

STEVEN SCHNEIDER, «DIE SCHNELLSTE FRAU DER WELT»: Wen wunderts, dass eine Frau, die Anfang des 20. Jahrhunderts erfolgreich Autorennen fuhr und gar ihren Motorsport-erprobten Ehemann hinter sich liess, ausgebremst wurde? Unter dem Titel «Die schnellste Frau der Welt» erzählt der Journalist Steven Schneider die Lebensgeschichte der Tschechin Eliška Junková romanhaft, aber faktentreu.

Und vor allem: empathisch. Wer die Kultkolumne «Schreiber vs. Schneider» in der Coop-Zeitung kennt, weiss, weshalb sich dieser Autor so gut in Frauen einfühlen kann – parliert er dort doch seit 25 Jahren mit seiner Gattin, der Autorin Sybil Schreiber, und berichtet auch vom Aufwachsen der gemeinsamen Töchter.

Steven Schneider: «Die schnellste Frau der Welt». Roman. Rüffer & Rub, 400 Seiten.

WILFRIED MEICHTRY: «DIE WELT IST VERKEHRT, NICHT WIR!»: «Wäre die Liebesgeschichte von Katharina von Arx und Freddy Drilhon erfunden, würde man sie schwerlich glauben», steht im Klappentext des neuen Werks von Wilfried Meichtry. Dieser Autor hat ein Händchen für historische Stoffe, die romanhafter sind als jeder Roman. Daher muss er daraus keinen machen, sondern sich nur an die Quellen halten und diese dramaturgisch effektvoll zusammenschneiden – schon läuft vor unserem inneren Auge ein Film ab.

In diesem Fall ist es die Lebensgeschichte einer Schweizer Reporterin, die in den 1950er-Jahren ganz auf sich gestellt die Welt bereiste und einige Südseeinseln als erster weisser Mensch erkundete. Dass sie ausgerechnet dabei den Mann ihres Lebens fand, grenzt tatsächlich an fiktiven Kitsch. Doch Meichtry erdet den abenteuerlichen Stoff souverän.

Wilfried Meichtry: «Die Welt ist verkehrt, nicht wir!» Biografie. Nagel & Kimche, 352 Seiten. (Erscheint am 24. Juni)*

*Dieser Text von Tina Uhlmann, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.

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