Wutbürger bedrohen Politiker und Polizisten heftiger
Wutbürger, Querulanten, Staatsverweigerer: Personen, die die Behörden und teilweise ihr Umfeld tyrannisieren. Das kann tödlich enden. Eine zunehmende Gefahr?
Das Wichtigste in Kürze
- Gerade seit Corona ist die politische Stimmung in der Schweiz angespannter.
- Wutbürger schicken Parlamentariern und Bundesräten weiterhin heftige Drohschreiben.
- In Schwyz befürchtet man, dass mehr Wutbürger potenziell gefährlich sind.
Die Meldung erschütterte die Schweiz: In Wohlen AG erschiesst ein Nachbar einen Abwart, weil dieser sich über Lärm beschwert haben soll. Der 39-jährige Familienvater stirbt – offenbar vor den Augen seiner Kinder.
Die Staatsanwaltschaft Aargau gibt zum Tatmotiv aktuell nichts bekannt.
Stimmt die Lärm-Theorie, reiht sich die Tat in eine Reihe von Zwischenfällen ein, die eines gemeinsam haben: Die Täter sind Personen, die ihr Umfeld, Behörden oder andere Institutionen tyrannisieren – von aussen betrachtet wegen Kleinigkeiten.
«Impulsive, antisoziale Persönlichkeit»
Die Begriffe Wutbürger oder Querulanten fallen in dem Zusammenhang häufig. Wutbürger sind laut Kriminologe Dirk Baier Personen, die auf Politik und Staat negativ zu sprechen sind und das auch zeigen.
Die Steigerung eines Wutbürgers sei der Staatsverweigerer. «Diese Menschen stellen sich hartnäckig gegen den Staat und die Behörden.»
Querulanten wiederum sind Personen, «die aufgrund ihrer impulsiven, antisozialen Persönlichkeit immer wieder in Konflikt mit Mitmenschen und Behörden kommen».
Die Tat in Wohlen AG erinnert daran, dass solche Tyranneien sogar tödlich enden können. Werden Wutbürger, Querulanten und Staatsverweigerer zur immer grösseren Gefahr? Oder konkret: Wächst das Risiko, wegen Banalitäten angegriffen zu werden?
Drohungen gegen Bundesräte und Parlamentarier werden heftiger
Nationale Zahlen gibt es nicht. Im Lagebericht 2023 warnte der Schweizer Nachrichtendienst NDB jedoch vor einem «harten Kern» gewalttätiger Coronaextremistinnen und -extremisten.
Eine Szene, die bekanntlich sehr heterogen ist – in der sich also Anhänger verschiedener Ideologien tummeln, darunter auch Staatsverweigerer. Der NDB geht auf Anfrage allerdings nicht näher auf die einzelnen Gruppierungen ein.
Fest steht: Auch unsere Politikerinnen und Politiker geraten nach wie vor häufiger in den Fokus solcher Personen. Die Bundespolizei Fedpol ist unter anderem für den Schutz von Bundes-, National- und Ständerätinnen und -räten zuständig.
Hier zeigt sich: «In der Zeit der Coronamassnahmen haben Drohungen und Drohschreiben zugenommen und sind inhaltlich intensiver geworden. Wir stellen fest, dass sie sich heute noch immer auf erhöhtem Niveau befinden», sagt Sprecher Patrick Jean zu Nau.ch.
«Bringe dich und deine Familie um»
Beunruhigt zeigt man sich auch im Kanton Schwyz. «Tendenziell gibt es seit Corona mehr Wutbürger, die als potenziell gefährlich eingestuft werden», sagt Polizeisprecher Roman Gisler. «Die Covid-19-Massnahmen zeigten sich als massgeblicher Treiber für die Szene.»
Kantonale Behörden wie die KESB oder die Gerichte würden mehr Meldungen beim Bedrohungsmanagement platzieren. «Nicht selten werden Drohungen ausgesprochen», sagt Gisler.
Etwa gegen Polizistinnen und Polizisten. Zwei Beispiele: «Ich kenne dich jetzt und bringe dich und deine Familie um.» Oder: «Ich mache euch alle kalt.»
Es gebe auch gewisse Delikte, mit denen die Kapo bei diesen Gruppen vermehrt konfrontiert ist. «Hinderung einer Amtshandlung, Gewalt und Drohung gegen Beamte, Ungehorsam gegen Verfügungen, Verweigern von Angaben zur Person ...», zählt Gisler auf.
Leute «weigern sich partout», mit Behörden zusammenzuarbeiten
Auch die Kapo St. Gallen stellt eine Zunahme solcher Personen fest, wie Sprecher Hanspeter Krüsi bei Nau.ch erklärt.
Im Polizeiberuf sei man es sich gewohnt, dass die Leute nicht immer erfreut sind, wenn sie kontrolliert werden. «Für andere Amtsstellen dürfte es hingegen eher neuer sein, dass sich Leute partout weigern, mit ihnen zusammenzuarbeiten.» Deshalb habe die Kapo sie auf das Problem aufmerksam gemacht.
Trotz Zunahme spricht Krüsi nicht von einer höheren Gefahr.
In Luzern klingt es ähnlich: Die Ombudsstelle berichtet von mehr Beschwerden durch Querulanten und Wutbürger, eine zunehmende Gefährdung stellt sie aber nicht fest.
Im Kanton Aargau werden immer mehr solche Fälle gemeldet. Das hat gemäss Kapo aber auch mit einem neuen Bedrohungsmanagement zu tun, das frühzeitigere Meldungen vorsieht.
In Zug gibt es zwar keine Häufung von Gewaltdelikten in der Szene. Doch die Polizei berichtet von Personen, die die Behörden mit «passivem Widerstand behindern».
«Das sollte hier auch einer machen»
Solche Fälle gibt es auch in Basel-Stadt: Laut dem Justiz- und Sicherheitsdepartement hat die Zahl der Staatsverweigerer dort zugenommen.
Elisabeth Burger von der Ombudsstelle sagt zu Nau.ch: «Wir stellen eine zunehmende Dünnhäutigkeit fest. Die Leute wenden sich heute sehr schnell im Ärger an uns.»
Auch Drohungen gegen Behördenmitarbeitende habe sie schon erhalten. «Meist sind es Andeutungen.» Sie erinnert sich an einen Fall, wo jemand in Bezug auf das Attentat in Zug 2001 sagte: «Sie wissen ja, was dort passiert ist. Das sollte hier auch einmal einer machen.»
Zum Glück sei das nach wie vor äusserst selten. «In meinen sechs Jahren bei der Ombudsstelle hatte ich bisher nur in einem Fall ein wirklich ungutes Gefühl. Die tatsächliche Gefährdung lasse ich jeweils von der Polizei einschätzen.»
Wutbürger haben «meist ein Problem oder Leiden»
Burger betont, dass auch in solchen Fällen Verständnis und Dialog wichtig seien. «Wenn jemand so heftig reagiert, steckt dahinter meist ein Problem oder ein Leiden. Das sind Menschen, die sich nicht gehört fühlen.»
Ähnlich sieht das Pierre Heusser, der Ombudsmann der Stadt Zürich. «Von aussen mag das Anliegen querulatorisch wirken, aber für die Betroffenen ist es ein echtes Problem. Wir versuchen, auch diese Menschen ernst zu nehmen und abzuholen.»
Manchmal reiche das schon.
Zündschnur auch bei Zürcher Stadt-Angestellten kürzer geworden
Doch das ist auch in der Limmatstadt nicht immer der Fall. «Wir stellen fest, dass die Zündschnur bei Bürgerinnen und Bürgern, die an uns gelangen, kürzer geworden ist. Aber auch die der Angestellten der Stadtverwaltung», sagt Heusser.
Entsprechend sei der durchschnittliche Aufwand pro Fall gestiegen, bis die Ombudsstelle zu einer Beruhigung oder Deeskalation beitragen kann.
Die Zahl der Beschwerden in der Stadt Zürich nehme aber in ähnlichem Ausmass zu wie früher. In einem Regierungsratsbeschluss vom Juni 2023 steht: Es gebe «keine Hinweise auf eine akute Gefährdung durch staatsablehnende Gruppierungen im Kanton Zürich oder in der Schweiz».
Ähnliches sagt die Kapo Bern. Die Polizeien der beiden Basel, Thurgau, Schaffhausen und Solothurn sowie die Ombudsstelle der Stadt Bern sagen nichts dazu. Zahlen fehlen, wie auch Kriminologe Dirk Baier erklärt.
Social Media und Individualisierung mitschuldig
Trotzdem gibt es aus seiner Sicht zwei wichtige Veränderungen, die die Situation negativ beeinflussen.
«Erstens wird über viele Themen sehr polarisierend diskutiert.» Das sei gerade während Corona besonders deutlich geworden. «Die sozialen Medien verschärfen diese Entwicklung, weil hier gehört wird, wer sich pointiert äussert.»
Dort könne man sich auch schnell in Gleichgesinnten-Gruppen organisieren. So höre und lese man nur noch, was das eigene Weltbild stützt.
«Zweitens gibt es den gesellschaftlichen Trend der Individualisierung.» Dabei würden die Ansprüche steigen, die man an sich und andere hat. «Dies alles kann zwischenmenschliche Konflikte auslösen, die es früher weniger gegeben hat.»
Dennoch gibt er Entwarnung: «Viele Gefahren werden frühzeitig erkannt.» Die Gesellschaft sei insgesamt sensibel für die verschiedenen Problematiken, «weshalb wir trotz dieser Entwicklung weitestgehend friedlich zusammenleben».