Coronavirus: Sind unsere Intensivstationen bald überfüllt?
Das Wichtigste in Kürze
- Studien zeigen: Massnahmen der chinesischen Regierung haben gut gewirkt.
- Diese Krise auch ein Stresstest für die demokratischen Staaten dieser Welt.
- Die Schweiz muss jetzt ihre Handlungsfähigkeit beweisen!
Laut dem Chef-Virologen des Berliner Universitätsspitals, Christian Drosten, ist es möglich, dass sich zwei Drittel der deutschen Gesamtbevölkerung mit dem Coronavirus infizieren werden.
In der Schweiz sind das rund 5,7 Millionen Menschen. Bei einer Mortalitätsrate von 0.5 Prozent – sie könnte höher liegen – wäre daher mit mehr als 28’000 Toten zu rechnen. Für Deutschland prognostiziert Drosten entsprechend rund 280’000 Todesopfer.
Angesichts dieser Prognose müsste die Hospitalisierungsrate sofort in den Fokus der öffentlichen Diskussion und des staatlichen Handelns gerückt werden. Aktuelle Daten legen nahe, dass rund 5% der Infizierten auf der Intensivstation behandelt werden müssen, oft über mehrere Wochen.
In Italien sind es nach offizieller Schätzung bisher sogar 10% der Infizierten, die der Intensivbehandlung bedürfen.
Hat die Schweiz genügend Spitalbetten?
Selbst wenn wir aber davon ausgehen, dass diese Zahl auf 2% fallen wird, so ergibt sich mit den Annahmen Drostens die folgende Rechnung:
Bei 5,7 Millionen Schweizer Infizierten landen 2%, also mehr als 110’000 Menschen früher oder später auf der Intensivstation – wenn es für sie denn Platz gibt. Auf den Intensivstationen der Schweiz gibt es aktuell rund 1000 Betten, die zu jedem Zeitpunkt mehrheitlich belegt sind. Drosten rechnet mit einer Verbreitungswelle, die ungefähr zwei Jahre andauern könnte.
110’000 zusätzliche Intensivpatienten in diesem Zeitraum bedeuten im Monatsschnitt einen Zustrom von mehr als 4'500 Patienten, der auf die Intensivstationen zukommt. Der Zustrom wird faktisch natürlich nicht linear bzw. gleichmässig sein, was das Problem noch verschärft. Drosten hat auch eingeräumt, dass die Verbreitungswelle nur ein Jahr andauern könnte. In diesem Fall würde der mittlere Zustrom an Intensivpatienten pro Monat mehr als 9'000 betragen.
Alarmierende Hochrechnung
Das ist – wohlgemerkt – keineswegs das Worst-Case-Szenario. Denn beträgt die Rate der Corona-Intensivpatienten nicht 2%, sondern 5%, ergeben sich im Monatsschnitt noch viel mehr zusätzliche Intensivpatienten. Sollten diese Patienten keinen Zugang zu Intensivstationen erhalten, sind sie akut bedroht.
Allein in Italien verstarben seit Sonntag 240 Menschen an den Folgen der Virusinfektion – viele Intensivpatienten müssen in den Spitalgängen betreut werden. Angesichts dieser Bedrohungslage sind die Vergleiche mit der berechenbaren saisonalen Grippe, an der jährlich maximal 2000 Menschen sterben, völlig abwegig und unverantwortlich.
Unklar, ob warme Temperaturen gegen den Corona-Virus helfen
Auch keineswegs klar ist, ob und wie stark die Frühlings- und Sommermonate das Coronavirus bremsen werden. Im Iran, wo es bereits jetzt wärmer ist, breitet sich das Virus rasant aus (7161 Fälle, Stand 9. März 2020).
Es erstaunt nicht, dass internationale Experten von einem «Krieg» sprechen, der gegen das Virus zu führen ist, und Staaten wie China, Taiwan oder Singapur für ihre Entschlossenheit danken. Tedros Ghebreyesus, der Direktor der WHO, äusserte nachdrücklich die Sorge, dass manche Staaten die Bedrohung nicht ernst nehmen. Damit ist auch die Schweiz gemeint.
Wie gedenkt der Schweizer Staat die drohende Katastrophe abzuwenden, dass abertausende Intensivpatienten aus Kapazitätsgründen nicht behandelt werden können? Und warum werden nicht längst Massnahmen diskutiert, die das von Virologen prognostizierte Szenario – 5,7 Millionen Infizierte – noch verhindern könnten?
Massnahmen der chinesischen Regierung haben gut gewirkt
Diese Massnahmen existieren. Aktuelle Studien zum Corona-Ausbruch in Wuhan legen nahe, dass die drastischen Schritte der chinesischen Regierung sehr gut gewirkt haben. Die Basisreproduktionszahl R0 des Virus lag anfänglich bei über 3, d. h. jede infizierte Person hat über drei weitere angesteckt. Durch die einschneidenden Massnahmen wurde R0 ersten Analysen zufolge auf 0,3 abgesenkt.
So konnte China die Zahl der Infizierten bisher stabil unter 100’000 halten. Die erwähnte Prognose zur Absenkung von R0 dagegen besteht darin, dass in der Schweiz 5,7 Millionen Menschen infiziert werden.
Dadurch wird eine temporäre Herdenimmunität aufgebaut, R0 fällt unter 1 und die Epidemie läuft aus – nach über 28’000 Todesopfern. China aber hat R0 durch seine Massnahmen direkt auf 0,3 abgesenkt, bei weniger als 100’000 Infizierten und etwas mehr als 3’000 Toten.
Bald italienische Zustände in der Schweiz?
Auch Italien musste den Ernst der Lage erkennen. Die Schulen und Universitäten wurden längst geschlossen, ganze Regionen sind militärisch abgeriegelt und die Bevölkerung steht unter Quarantäne. Die Anzahl der Infizierten, Hospitalisierten und Toten wird sich in der Schweiz sehr ähnlich entwickeln wie in Italien – alles andere wäre ein statistisches Wunder.
Die exponentiellen Kurven sind dieselben, Italien ist der Schweiz nur um zwei Wochen voraus. Die italienische Regierung hat angesichts der überlaufenden Intensivstationen beschlossen, die Anzahl entsprechender Betten um 50% zu erhöhen. Das wird wahrscheinlich nicht genügen, aber es ist ein Anfang.
Italien hat – wie zuvor China, Taiwan oder Singapur – inzwischen verstanden, dass das Ausmass der Pandemie ganz entscheidend von der Entschlossenheit unseres Handelns abhängt. Aber Italien handelt spät, vielleicht zu spät.
China hat viel früher reagiert
China ist viel früher eingeschritten – nämlich bei gerade einmal 900 Infizierten –, was für den Erfolg womöglich entscheidend war. Seit dem Corona-Ausbruch in Wuhan war absehbar, dass sich die Lage in Europa sehr ähnlich entwickeln könnte. Die europäischen Staaten hätten sich vorbereiten müssen.
In der Tat ist diese Krise auch ein Stresstest für die demokratischen Staaten dieser Welt. Sie müssen beweisen, dass sie im Katastrophenfall nicht weniger handlungsfähig sind als die Autokratien und Diktaturen. Das gilt auch für den Schweizer Staat. Er könnte jetzt handeln, bevor die Intensivstationen überlaufen.
Zu den Autoren:
Adriano Mannino ist Philosoph und Sozialunternehmer und forscht im Bereich der Risikoethik.
Nikil Mukerji ist Philosoph und Geschäftsführer des Studiengangs Philosophie Politik Wirtschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München.