Die Europa-Initiative bewegt – genau deshalb braucht es sie
Die Europa-Initiative bewegt lange vor der ersten Unterschrift die Schweizer Politik. Die Schweiz brauche Druck aus der Zivilgesellschaft. Ein Gastbeitrag.
Das Wichtigste in Kürze
- Operation Libero und die Grünen haben eine Volksinitiative lanciert.
- Renato Perlini erklärt: Die Europa-Initiative soll ein «Gingg ins Füdle» sein.
- Es gehe darum, zusammen eine schlagkräftige Europa-Allianz zu schmieden.
In der Schweizer Politlandschaft gibt es ein strukturelles Interesse, nicht über Europa zu sprechen. Das hat viel mit der SVP zu tun, aber auch mit Selbstüberschätzung und Mutlosigkeit. Spätestens mit der Versenkung des Rahmenabkommens im Mai stellten wir fest: Jetzt sind wir an einem Punkt, wo die Verweigerung, über Europa zu sprechen, materielle Konsequenzen hat für die Schweiz.
Der Bundesrat und die Bundesratsparteien brauchen also einen «Gingg ins Füdle». Und wie erreicht man das? Zum Glück gibt es in der Schweiz die Möglichkeit, das Heft selber in die Hand zu nehmen – mit einer Volksinitiative.
Und so haben wir uns mit Experten*innen, Vertreter*innen europapolitischer Organisationen und weiteren Interessierten daran gemacht, Textentwürfe für die Europa-Initiative auszuarbeiten. Die Grünen waren die ersten, die sich von der Notwendigkeit unseres Projekts überzeugt haben. Und viele weitere Partner sollen folgen.
Bei der Europa-Initiative geht es weder um Selbstprofilierung noch um Klientelinteressen – wir arbeiten daran, zusammen eine schlagkräftige Europa-Allianz zu schmieden. Und falls der Bundesrat oder das Parlament wider Erwarten und entgegen der jahrelangen Verzögerungstaktik von sich aus tätig werden, ziehen wir die Initiative noch so gern zurück.
Darum geht es: die Ziele
Doch was genau will die Europa-Initiative? Schnell wurde letzte Woche versucht, unsere Europa-Initiative als Forderung nach einem EU-Beitritt darzustellen und das Vorhaben auf diese Weise zu diskreditieren. Doch bei der Europa-Initiative geht es nicht um einen EU-Beitritt, sondern darum, unsere Beziehungen zu Europa langfristig sicherzustellen.
Die Initiative betritt Neuland, indem sie dem Bundesrat ein Ziel anstelle eines Instruments vorgibt. Die Europa-Initiative gibt dem Bundesrat vor, was unsere Beziehungen zu Europa mindestens können müssen – die Instrumente lässt sie jedoch offen. Das überlässt dem Bundesrat den nötigen Spielraum. Der Bundesrat muss sicherstellen, dass alte Abkommen mit der EU aktualisiert und neue abgeschlossen werden können.
Genau hier liegt nämlich das grosse Problem: Wenn wir einfach so rumwursteln wie bisher, dann werden die Bilateralen Verträge, die für den Werk-, Bildungs- und Forschungsplatz Schweiz zentral sind, eher früher als später erodieren. Das müssen wir unbedingt verhindern.
Zudem braucht es einen Streitschlichtungsmechanismus, der auf Recht und nicht auf Macht basiert.
Konkret verfolgen wir mit der Europa-Initiative vier Ziele:
Die Europa-Initiative soll den europapolitischen Mantel des Schweigens durchbrechen und eine lang benötigte Grundsatzdebatte vom Zaun brechen. Wir wollen eine Geschichte erzählen, in der die Schweiz Europa will und nicht nur muss.
Die Europa-Initiative soll das grösste strukturelle Problem der Schweiz lösen. Ihr ungeklärtes Verhältnis zu Europa. Sie zwingt den Bundesrat, eine Lösung dieses Problems zu verhandeln und dann dem Parlament und dem Volk vorzulegen.
Die Allianz, die die Europa-Initiative trägt, soll zu einem neuen europapolitischen Netzwerk beitragen, das die europäischen Werte genauso thematisieren kann, wie es die materiellen Interessen der Schweiz vertreten kann.
Der Text der Initiative soll so geschrieben werden, dass die Europapolitik die demokratische Legitimation erhält, die sie verdient. Im Gegensatz zum Rahmenabkommen soll es also nicht möglich sein, dass der Bundesrat Verhandlungen ohne Parlaments- und Volksentscheid abbricht.
Darum braucht es die Europa-Initiative: die Reaktionen
Eines der Ziele der Europa-Initiative ist, eine Grundsatzdebatte vom Zaun zu brechen. Dies ist in Ansätzen bereits in der ersten Woche nach der Ankündigung der Initiative gelungen. Landauf, landab wurden Politiker*innen zu unserem Vorhaben befragt und es wurde sogleich klar: Das strukturelle Interesse, nicht über Europa zu sprechen, führt zu einer erschreckenden Orientierungslosigkeit im Dossier. Drei Vorwürfe gegen unser Projekt zeigen, warum es eben genau eine Europa-Initiative braucht, um die verfahrene Debatte aus dem Mist zu karren.
1. FDP Präsident Thierry Burkart sagte in einem Interview mit der NZZ, dass wir mit der Europa-Initiative dem Bundesrat in den Rücken fallen würden. Dies ist aus drei Gründen falsch: Erstens sehen die jetzigen Entwürfe eines Initiativtextes vor, dass der Bundesrat nicht nur ein ausgehandeltes Abkommen Parlament und Volk vorlegen könnte, sondern er könnte auch einen Antrag vorlegen, kein Abkommen zu verabschieden. Er könnte sich quasi vom Parlament (und vom Stimmvolk) die Lizenz zum Weiterwursteln holen, was nicht gut wäre für die Europapolitik, aber im Gegensatz zum Abbruch beim Rahmenabkommen demokratisch legitimiert wäre.
Europa-Initiative als «Gingg ins Füdle»
Zweitens hätte auch die EU kein Interesse daran, der Schweiz Bedingungen aufzudrücken, die vor dem Stimmvolk keine Chance hätten. Und drittens: Der Bundesrat führt momentan gar keine Verhandlungen, die von der Europa-Initiative beeinflusst werden könnten. Die Europa-Initiative ist genau der «Gingg ins Füdle», der den Bundesrat dazu bringen soll, die Verhandlungen wieder aufzunehmen.
2. FDP-Präsident Burkart sagte in der NZZ auch, dass die EU ja auch von der Schweiz profitiere und dass mit ein bisschen Pragmatismus neue sektorielle Verträge abgeschlossen werden können.
Dies, obwohl die EU gebetsmühlenartig wiederholt, dass es keine neuen Verträge im Stile der Bilateralen I und II geben wird ohne institutionellem Rahmen. Obwohl Europarechtler*innen und andere Rechtsgelehrte seit Jahren sagen, dass das Recht der EU zwingend vom Europäischen Gerichtshof ausgelegt werden müsse und nicht von einem paritätischen Schiedsgericht.
Wer solche Vorschläge macht, der zeigt, dass er noch immer in der Phase der Problemverdrängung ist, noch nicht in der Phase der Problembewältigung. Burkart schlägt schlussendlich nichts anders vor, als dass der Bundesrat weiterwursteln solle wie bisher. Das muss sich nun endlich ändern.
3. Ein dritter Vorwurf ist derjenige, dass wir mit der Europa-Initiative Wahlkampf für die SVP machen. Die Initiative hat das Ziel, den nationalromantischen Diskurs zu Europa in der Schweiz, der jahrzehntelang von der SVP dominiert wurde, und auf den die bürgerliche Mitte aufsprang, zu durchbrechen.
Wir haben genug vom «souveränen» Abseitsstehen. Souveränität bedeutet für uns mitentscheiden, wo wir mitbetroffen sind und Verantwortung übernehmen für globale Herausforderungen wie die Klimakrise, die Digitalisierung und die weltweite Erosion der Demokratie.
So geht es jetzt weiter: die Europa-Allianz
In den nächsten Wochen werden wir zusammen mit anderen Akteuren eine schlagkräftige Allianz auf die Beine stellen, die eine zukunftsfähige Europapolitik will. Die Grünen konnten wir bereits davon überzeugen, sie prüfen die gemeinsame Lancierung der Europa-Initiative. Wir laden alle interessierten Akteure ein, sich unserem Vorhaben anzuschliessen.
Ob Parteien, Wirtschaftsverbände oder Organisationen aus der Zivilgesellschaft, wir wollen mit allen eng zusammenarbeiten, die konstruktive Lösungen für die Schweizer Europapolitik wollen. Denn je mehr wir sind, desto schlagkräftiger sind wir. Zusammen werden wir den Initiativtext finalisieren und anfangs 2022 präsentieren.
Das kannst du machen: Hilf uns, den nationalromantischen Diskurs zu durchbrechen
Für dieses Projekt braucht es uns alle. Hilf mit und überzeuge auf der Strasse, an Stammtischen, im Web oder im Verein alle Menschen, die noch immer Angst haben vor der SVP.
Seit Jahrzehnten wird alles, was wir in der Schweiz über Europa diskutieren von der SVP gedeutet – wir haben genug davon! Die Europa-Initiative ist ein Schritt dazu, dies zu ändern. Die Schweiz und Europa haben ihre besten Zeiten noch vor sich, wenn es uns gelingt, aus dieser europapolitischen Sackgasse auszubrechen und unsere Zukunft zu gestalten, statt unsere Vergangenheit zu verklären.