Gastbeitrag: Die Schweiz muss ihrem Ruf gerecht werden
Exil-Iranerin Sadaf Sedighzadeh erklärt im Gastbeitrag, warum der Iran und die Schweiz eng verbunden sind. Und sie fordert, dass die Schweiz menschlich bleibt.
Das Wichtigste in Kürze
- Die Plattform «Free Iran Switzerland» ruft zur nationalen Kundgebung in Bern auf.
- Exil-Iranerin Sadaf Sedighzadeh erklärt im Gastbeitrag, was die beiden Länder verbindet.
- Für den Iran hat die Schweiz eine besondere Bedeutung – dieser muss sie gerecht werden.
Der Wunsch nach Freiheit, Demokratie und Menschenrechten eint die Schweiz mit dem Iran. Die Plattform «Free Iran Switzerland» ruft deshalb zur nationalen Manifestation morgen Samstag (um 14.30 Uhr) auf dem Bundesplatz in Bern auf.
Der Bundesrat muss endlich Haltung zeigen. Die Schweiz und der Iran könnten verschiedener nicht sein – und doch sind die beiden Länder gleichzeitig eng miteinander verbunden.
Nicht nur durch die vielen Tausend iranischstämmigen Schweizer und Schweizerinnen, sondern auch durch Träume und Wünsche. Auch die Menschen im Iran wollen frei sein, in einem demokratischen Land das eigene Leben selbstbestimmt gestalten können, und sie zählen auf uns. Sie sehen die Schweiz und warten darauf, von der Schweiz gesehen zu werden.
Feministische, demokratische Revolution im Iran
Eine meiner ersten politischen Erfahrungen war an einer Kundgebung vor dem iranischen Konsulat in Bern. Damals war ich etwa vier Jahre alt, Mamani war schwanger mit meinem Bruder, mein Baba hatte erste weisse Haare. Ich wusste nicht, was ein Konsulat ist, geschweige denn, was Mullahs sind.
Ich spürte nur, wie die Luft um meine Eltern herum sich schwer anfühlte an diesem Tag. «Keine Geschäfte mit den Mullahs», so hiess die Parole damals.
Jetzt, zwanzig Jahre später, ist uns allen das Lachen wieder vergangen, und die Forderung ist geblieben. «Keine Geschäfte mit den Mullahs», dieses Mal verstehe ich es sogar besser, als es mir lieb ist.
Frauen per Gesetz halb so viel wert wie Männer
In der Heimat meiner Eltern ist eine feministische, demokratische Revolution ausgebrochen. Begonnen hat das Ganze mit dem Tod von Jhîna Mahsa Amini, die von der Sittenpolizei höchstwahrscheinlich so heftig auf den Kopf geschlagen wurde, dass sie wenige Stunden später an den Folgen gestorben ist.
Das alles wegen eines vermeintlich zu locker sitzenden Kopftuchs. Sittenpolizei, Gewalt und Frauenhass, ja sogar generelle staatliche Menschenfeindlichkeit sind in Iran seit mehr als vierzig Jahren Teil des Alltags geworden.
Die Bevölkerung, die sich einst gegen die Gräueltaten des Schahs gewehrt hat, wehrt sich nun erneut gegen das unterdrückerische, zutiefst frauenfeindliche, theokratische Mullah-Regime. Ein Regime, in dem Frauen per Gesetz halb so viel wert sind wie Männer.
Die Regierung in Bern will auf der politischen Weltbühne eine vermittelnde Rolle einnehmen. Genau jetzt, wo es darum geht, dem Volk und einer hoffentlich demokratischen Nachfolgeregierung Gehör zu schenken und den Weg für weitere Zusammenarbeit zu ebnen, wird eine verpasste Chance in Kauf genommen.
Keine gezielten Sanktionen gegen die iranische Regierung
Sogar die Sanktionen, welche die EU ausgesprochen hat, werden einzig und allein in dem Punkt übernommen, wo es um die Entwicklung und Lieferung von Kriegsdrohnen an Russland geht. Gezielte Sanktionen im Zusammenhang mit den Menschenrechtsverletzungen im Laufe der Proteste wurden nicht ausgesprochen.
Keine gezielten Sanktionen gegen die iranische Regierung und ihre paramilitärischen Einheiten wie die Basij, die Menschen regelmässig schikaniert, ja sogar vergewaltigt und tötet. Keine Konsequenzen tragen zu müssen bekräftigt die Mullahs in ihren Taten und wirkt auf uns, die wir seit mehr als einem Monat um unsere Angehörigen bangen, wie ein Schlag ins Gesicht.
Auch deshalb ist ein Nachvollzug der Sanktionen, welche die USA, die EU, vor allem aber auch Kanada gegenüber dem Iran ausgesprochen haben, so wichtig.
«Suis» entwickelte sich zum Sehnsuchtsbegriff
Es ein perfider Gedanke, dass die Regierungsmitglieder Irans, die Revolutionsgarde und die Basij immer noch ungehindert in die Schweiz einreisen können. Wenn man bedenkt, wie viele Menschen in der Schweiz einst vor den Taten genau dieser Personen flüchten mussten, wie viele meiner Freunde, Bekannten und im Herz verbundenen Menschen noch immer die reuelosen Gesichter und die Foltererlebnisse wie eingebrannt in ihrem Gedächtnis mit sich tragen, ist das ein Armutszeugnis.
Mindestens genauso perfide ist es zu wissen, dass viele Opfer dieses Regimes immer noch nicht sicher sind vor Ausschaffungen. Immer noch nicht sicher davor sind, bis vor die Haustüre ihrer Peiniger «begleitet» zu werden. Nicht sicher davor, dem Tod ausgeliefert zu sein, wortwörtlich.
Das Wort «Schweiz», auf Farsi «Suis», hat im Iran einen ganz besonderen Klang. «Suis» hat sich fast schon zu einem Sehnsuchtsbegriff entwickelt. Sehnsucht nach Demokratie, Gleichheit, Unabhängigkeit. Sehnsucht nach einem gerechten System, nach Freiheit.
Die Schweiz muss menschlich bleiben
Die Schweiz ist ein Vorbild für die Menschen im Iran. «Suis» steht für all die Werte, für die sie seit mehr als 45 Tagen auf die Strasse gehen. Es sind die gleichen Werte, die sich die Schweiz auf die Fahne schreibt und in Anbetracht dessen zu verteidigen hat.
Ich will, dass meine Heimat diesem Bild der Iranerinnen und Iraner gerecht wird. Ich will, dass meine Heimat ihrem eigenen Selbstbild gerecht wird.
Die Schweiz muss menschlich bleiben. Dazu muss sie die Gräueltaten dieses Regimes nicht nur in Worten verurteilen, sondern Taten folgen lassen und endlich für das einstehen, worauf wir Schweizer und Schweizerinnen stolz sind: Freiheit, Demokratie und Menschenrechte.
Genau aus diesem Grund bin ich Mitglied bei «Free Iran Switzerland», einer Plattform, die sich dafür einsetzt, dass die Stimmen im Iran gehört werden.
Deshalb ist es auch für Menschen ohne einen Bezug zum Iran wichtig, am Samstag an der Demo in Bern ein Zeichen zu setzen: Gegen das theokratische Terrorregime im Iran, aber auch für «Suis», für Freiheit.
Zur Autorin: Sadaf Sedighzadeh ist mit ihren Eltern als zweijähriges Mädchen vor den Repressionen des Mullah-Regimes in die Schweiz geflüchtet. Jetzt studiert die Zürcherin Kommunikationswissenschaft und Literaturwissenschaft und setzt sich gemeinsam mit der Plattform Free Iran für einen Regimewechsel im Iran ein.