Gastbeitrag: Geteilte Meinungen über redselige Twitter-Journalisten
Will das Publikum wirklich wissen, was die Journalisten persönlich denken? Ein Gastbeitrag von Rainer Stadler (infosperber.ch).
Das Wichtigste in Kürze
- Für viele Journalisten hat eine zu offenherzige Twittermeldung das Karriereende bedeutet.
- Laut «New York Times»-Umfrage wollen 55 Prozent keine private Journalistenmeinung hören.
Mancher Offenherzige hat sich auf Twitter die Finger verbrannt. Einige Übermütige verspielten sogar ihre berufliche Existenz.
Jüngst trennte sich die «New York Times» von einer Mitarbeiterin, die das Bedürfnis gehabt hatte, anlässlich der Vereidigung des neuen US-Präsidenten der Welt mitzuteilen, dass sie bei der Ankunft von Joe Biden eine Gänsehaut bekommen habe.
Die Zeitung nahm dieses Gefühls-Outing als Gefährdung der Unparteilichkeit ihres Nachrichtenpersonals wahr. Das mag als völlig übertriebene Reaktion der Zeitung erscheinen, ist aber erklärbar mit Blick auf ein mediales Milieu, in dem politisch getriebene Journalisten und Trump-Fans auch kleinste Schwachstellen ihrer Opponenten auszunutzen versuchen.
Etliche Medienhäuser ermahnen seit langem ihre Belegschaft zur Zurückhaltung auf sozialen Netzwerken. Einige legten Verhaltensregeln fest.
Umfrage der «New York Times»
Was aber denkt das Publikum über die Informationsvermittler, die gerne ihre Herzen zur Schau stellen? Die «New York Times» wollte es wissen und machte Ende Januar eine Umfrage unter 3400 Erwachsenen. Die Resultate zeigen keine klare Stimmungslage. Nur 55 Prozent meinten, Journalisten sollten ihre Meinungen für sich behalten. 39 Prozent sagten, sie würden ihr Vertrauen verlieren in Journalisten, welche ihre persönlichen Ansichten publik machen.
Die anderen Teilnehmer der Umfrage sahen das entspannter, wobei 22 Prozent keine Meinung äusserten. Gleichzeitig sagte bloss eine Minderheit von 36 Prozent, sie würden sich für die privaten Ansichten ihrer Lieblingsjournalisten interessieren.
Kein Freipass für Journalisten mit Mitteilungsbedürfnis
Mitteilungsbedürftige Journalisten können die Resultate kaum als Freipass interpretieren. Denn sie riskieren mehr als die Schweigsameren. Wer nämlich darauf verzichtet, sich zu allem und jedem zu äussern, ignoriert zwar das Interesse einer Minderheit des Publikums, mehr über die persönlichen Vorlieben eines Journalisten zu erfahren.
Dieser Mangel an Offenheit ist aber – mit Blick auf die Wahrung der Glaubwürdigkeit – weniger riskant als die Aussicht, durch persönliche Bekundungen einen Teil des Publikums abzuschrecken.
Werden die Resultate der Umfrage eine Verhaltensänderung bewirken? Nicht wirklich. Zur Steigerung der Hygiene und der Transparenz in der Kommunikation sollten die sozialen Netzwerke eine neue Funktion einführen. Zu jedem Tweet würde dann automatisch die Frage eingeblendet: «Wollten Sie das wirklich wissen: Ja oder Nein?»
Zu diesem Gastbeitrag: Dieser Artikel von Journalist Rainer Stadler ist auf Infosperber.ch erschienen. Herausgeberin von infosperber.ch ist die gemeinnützige «Schweizerische Stiftung zur Förderung unabhängiger Information» (SSUI).