Jürg Grossen zum Wahlsystem: «Jede Stimme muss gleich viel zählen»

Aktuell entspreche jeder 13. Nationalratssitz nicht dem Wählerwillen. Der doppelte Proporz sei deswegen die Lösung, schreibt GLP-Präsident Jürg Grossen.

Jürg Grossen GLP Grünliberalen
Jürg Grossen: Der nationale GLP-Chef fordert den Parteiausschluss von Sanija Ameti. - keystone

Das Wichtigste in Kürze

  • Das aktuelle Wahlsystem verzerre die Sitzverteilung zugunsten der grösseren Parteien.
  • Die Grünliberalen fordern den erprobten doppelten Proporz für fairere Wahlen.
  • Ein Gastbeitrag von GLP-Präsident Jürg Grossen.

Freie und faire Wahlen sind die Grundlage der Schweizer Demokratie und ein zentrales politisches Recht. Nur ein Bruchteil aller neuen Gesetze kommt in einer Abstimmung vors Volk. Das vergrössert den Einfluss des Parlaments. Ich habe es im Nationalrat immer wieder erlebt: Der Ausgang von Abstimmungen im Parlament hängt oft von einigen wenigen Stimmen ab. Kleine Verschiebungen im National- oder Ständerat können daher einen grossen Einfluss haben.

Es ist deshalb wichtig, dass jede Stimme der Wählerinnen und Wähler zählt, und zwar gleich viel. Das ist heute leider nicht der Fall. Aufgrund unseres Wahlsystems entsprechen 15 der 200 Sitze im neu gewählten Nationalrat nicht dem direkten Wählerwillen. Die Gründe dafür sind technisch und komplex.

Das Problem der zu kleinen Wahlkreise

Die Bundesverfassung gibt vor, dass der Nationalrat im Proporz gewählt wird. Heute geschieht dies in einem einfachen Proporz. Dafür bildet jeder Kanton einen eigenen Wahlkreis. Die Anzahl der Sitze hängen von der Einwohnerzahl ab. Die Unterschiede sind dabei gross: von nur einem Sitz zum Beispiel für den Kanton Glarus bis hin zu 36 Sitzen für den Kanton Zürich.

In kleinen Wahlkreisen stösst der Proporz aber an seine Grenzen. In den sechs Kantonen mit einem Sitz treten die meisten Parteien gar nicht erst an, die stärkste Partei und damit Wahlgewinnerin ist meist schon bekannt. Auch in den sechs Kantonen mit zwei bis vier Sitzen kommt es am Wahlsonntag selten zu Überraschungen.

Das Bundesgericht leitet aus der Bundesverfassung ab, dass jede Stimme das gleiche Gewicht haben muss. Das müsste in einer Demokratie eigentlich selbstverständlich sein. Tatsächlich gab es in den letzten Jahrzehnten Urteile gegen die Wahlsysteme mehrerer Kantone, weil sie diesen fundamentalen Grundsatz nicht eingehalten haben. Viele Kantone haben unter diesem Druck ihre Wahlsysteme für kantonale Wahlen geändert.

Für das Bundesgericht stellen im einfachen Proporz Wahlkreise mit weniger als 10 Sitzen grundsätzlich eine unzulässige Hürde für die kleineren Parteien dar. Denn bei 10 Sitzen braucht eine Partei mindestens 10 Prozent der Stimmen für einen Sitz. Bei den Nationalratswahlen haben 20 Kantone weniger als 10 Sitze und halten diesen Grundsatz daher nicht ein.

Weil es auf Bundesebene keine Verfassungsgerichtsbarkeit gibt, bleibt das aber für das unfaire Wahlsystem der Nationalratswahlen bisher unangetastet. Damit zählt bis heute nicht jede Stimme gleich viel. Das muss sich ändern.

Listenverbindungen als notwendiges Korrektiv

Die Listenverbindungen waren in diesem Wahljahr ein häufiges Thema in den Medien. Sie sind ein vielleicht unschönes, aber insbesondere für kleinere Parteien absolut zentrales Werkzeug, um die Nachteile des heutigen Wahlsystems zumindest teilweise auszugleichen. Ohne Listenverbindungen würde das heutige Wahlsystem grössere Parteien noch stärker bevorzugen. Würde hingegen endlich der doppelte Proporz eingeführt, könnten die Listenverbindungen abgeschafft werden, sie wären unnötig.

Doppelter Proporz für faire Wahlen

Viele Kantone haben in den letzten Jahrzehnten ihr Wahlsystem auf den sogenannten «doppelten Proporz» umgestellt, zuletzt 2022 der Kanton Graubünden. Im doppelten Proporz werden in einer ersten Runde alle Stimmen schweizweit gezählt und die Sitze anteilsmässig verteilt. Hat eine Partei 20 Prozent der Stimmen, erhält sie 20 Prozent der Sitze, also 40 Nationalratssitze.

Grossen GLP Covid-19-Gesetz
Jürg Grossen (GLP/BE) an einer Medienkonferenz. - Keystone

In einer zweiten Runde geht es darum, die Sitze auf die Kantone zu verteilen. Hier gibt es verschiedene etablierte Lösungsansätze. So war es beispielsweise für den Kanton Graubünden wichtig, seine 39 Wahlkreise – davon 20 mit je einem Sitz – beizubehalten. Damit auch der Wählerwille vor Ort abgebildet ist, erhält jeweils die wählerstärkste Partei in jedem Wahlkreis sicher einen Sitz. Mit einer vergleichbaren Lösung kann der Wählerwille auch aus kleinen Kantonen aufgenommen werden.

Wir Grünliberalen fordern schon seit vielen Jahren einen Wechsel zum doppelten Proporz, scheitern aber im Parlament regelmässig an den grösseren Parteien, die vom heutigen Wahlsystem profitieren und die Macht mit allen Mitteln erhalten wollen. Nur mit dem doppelten Proporz würde jede Stimme gleich viel zählen, egal in welchem Kanton gewählt wird und wie gross eine kantonale Partei ist. So würde der Wählerwille im Nationaltrat besser abgebildet.

Würden Sie eine Änderung des Wahlsystems für den Nationalrat befürworten?

Davon würden alle Wählenden, egal ob SVP-Wählende im Kanton Nidwalden, Mitte-Wählende im Kanton Jura, SP-Wählende im Kanton Schwyz oder GLP-Wählende im Kanton Genf profitieren. Ihre Stimme käme bei der gewünschten Partei an. So, wie es eigentlich sein müsste. Es ist deshalb höchste Zeit, das Wahlsystem auf den doppelten Proporz anzupassen. Meine Motion «Jede Stimme zählt gleich viel. Es ist Zeit für faire Nationalratswahlen» dazu liegt zur Beratung vor.

Kommentare

User #6013 (nicht angemeldet)

Der Zensor löscht meine Beiträge. Die Halbwertzeit kleiner Parteien ist kurz. Die Finanzpolitik verhindert wohl die Vereinigung der Grünen mit der GLP. Nur grössere Parteien können im Bundesrat etwas bewirken. 4 BR-Parteien genügen, damit nicht noch mehr Partei-PR oder ständiger Wahlkampf durch Bundesräte (à la Doppelmaurer) betrieben wird.

User #4433 (nicht angemeldet)

Keiner braucht die GLP, für mich weder Fisch noch Vogel.

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