Pascal Lottaz über die Auslegung der Neutralität
Schon viele Staaten bezeichneten sich als neutral, aber mit unterschiedlichen Auslegungen. Eine Analyse von Historiker Pascal Lottaz.
Das Wichtigste in Kürze
- Historiker Pascal Lottaz schreibt die Kolumne «Die Schweiz, ihre Neutralität und die Welt
- In diesem Artikel zeigt er die verschiedenen Nuancen der Neutralität auf
Debattiert man in der Schweiz aussenpolitische Themen, dann fällt die Rede schnell einmal auf die Neutralität; diesen Grundpfeiler des Schweizer Selbstbewusstseins, der quasi unisono Rückhalt in der Bevölkerung geniesst—je nach Befragung zu über 95 Prozent.
Was allerdings als «neutral» gilt, und was nicht, da scheiden sich die Geister. Zum Beispiel diskutierte die Schweiz 2002 die Pros und Cons eines UNO-Beitrittes im Kontext ihrer Neutralitätspolitik—kann man diese wahren, auch wenn man Mitglied des Welt-Klubs ist? Der Souverän hat dies positiv beantwortet und sich nach langer Zeit doch noch zur UNO bekannt, allerdings mit «nur» 54% Ja-Stimmen.
Auch der potenzielle Beitritt der Schweiz zur EU wurde schon aufs heftigste unter dem Aspekt der Neutralität diskutiert, öffentlich und auf Parlamentsebene. Wobei die einen argumentieren, dass Neutralität nie und nimmer in der EU machbar ist, während die Anderen postulieren, dass neutrale EU Mitglieder wie Irland und Österreich ja der Beweis seien, dass man auch innerhalb der EU neutral bleiben kann.
Die Uneinigkeit hat einerseits natürlich mit politischen Einstellungen zu tun, hängt andererseits aber auch mit der Natur des Neutralitätsbegriffes zusammen, der enorm flexibel ist und sehr viel Interpretation zulässt.
So verlangt das Neutralitätsrecht (welches Teil des internationalen Rechts ist) zum Beispiel nicht, dass neutrale Staaten sich diplomatisch, wirtschaftlich oder ideologisch von Konfliktparteien fernhalten, sondern verbietet nur militärische Beihilfe. In allen anderen Bereichen sind neutrale Staaten frei nach Lust und Laune mit Konfliktparteien zu interagieren. Das Neutralitätsrecht verlangt lediglich, dass beide Seiten gleichbehandelt werden.
Des Weiteren kennt das internationale Recht Neutralitäten in verschiedensten Geschmacksrichtungen. Neutralität kann zum Beispiel wie im Falle der Schweiz «permanent» (oder «immerwährend») sein, was ein Versprechen eines Staates ist, sich unter keinen Umständen militärisch mit anderen Ländern zu verbünden.
Diese Form der Neutralität ist aber eher eine historische Ausnahme—nicht die Regel. Es war viel häufiger der Fall, dass Staaten die sogenannte «gelegentliche» Neutralität angewandt haben, um sich in gewissen Konflikten neutral zu verhalten, nicht aber in anderen—und schon gar nicht prinzipiell. Das war vor allem ein Mittel grosser Staaten, um sich aus den geostrategischen Machtspielen anderer Länder dann raus zu halten, wenn sie selbst nichts dabei zu gewinnen hatten.
Zum Beispiel blieben die USA und Preussen beide neutral im Krimkrieg (1853-1856) um ihre Handelsinteressen mit beiden Seiten (vor allem Russland gegen England und Frankreich) aufrecht zu erhalten. Handkehrum erklärten sich Russland und England für neutral in den Europäischen Nationalkriegen zwischen 1859 und 1871.
Die Praxis der «gelegentlichen» Neutralität fand Anwendung bis in den Zweiten Weltkrieg, welcher Ausschlag für eine der merkwürdigsten Neutralitäten überhaupt gab; den Sowjet-Japanischen Neutralitätspakt von 1941. Kurz bevor Hitler die Sowjetunion überfiel, schloss diese mit Japan einen Staatsvertrag ab, in dem sich beide gegenseitig Neutralität versprachen—unter jedweden Umständen. Nach dem Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion und der japanischen Attacke auf Pearl Harbor (was zum Kriegseintritt der USA führte) hatte dies zur Folge, dass die Sowjetunion und Japan einander gegenüber tatsächlich Neutral blieben (bis August 1945), während sie gleichzeitig im Krieg waren mit den Verbündeten des jeweils anderen Staates. Das zeigt wie paradox Neutralität selbst sein kann—es ist noch nicht einmal unmöglich gleichzeitig neutral und kriegsführend zu sein.
Kurz; Neutralität ist ein sehr dehnbares Konzept und wird zu dem, was Staaten aus ihr machen.