Amruta Wyssmann: Klettern ohne linken Unterarm
Amruta «Amy» Wyssmann (31) ist Para-Kletterin. Nau.ch hat mit ihr über die Bedeutung des Sports und ihre Final-Hoffnungen an ihrer Heim-WM in Bern gesprochen.
Das Wichtigste in Kürze
- Amruta Wyssmann tritt an der WM in Bern für das Schweizer Para-Kletterteam an.
- Sie gilt als Pionierin im Para-Klettern – das Schweizer Team gibt es seit wenigen Jahren.
- Bei Nau.ch erklärt sie, wieso man ohne Unterarm trotzdem klettern kann – und sollte.
Vom 1. bis zum 12. August findet in der Schweiz die erste inklusive Weltmeisterschaft im Sportklettern statt. Inklusiv, weil die Wettkämpfe für Parasportlerinnen und Parasportler gleichzeitig stattfinden und nicht einfach «angehängt» werden.
Das freut auch Amruta «Amy» Wyssmann (31). Die Bündnerin kam ohne linken Unterarm zur Welt und tritt seit zwei Jahren an Paraclimbing-Wettkämpfen auf der ganzen Welt an.
Im Paraklettern gibt es keinen Boulderwettkampf. Geklettert wird an einer 15 Meter hohen Wand, die Athletinnen werden durch ein spezielles System mit zwei Seilen gesichert. Wyssmann tritt in der Kategorie AU2 an – das steht für «Amputee Upper Limb 2».
Als erstes Mitglied des Schweizer Para-Kletterteams gilt sie als Pionierin des Sports in der Schweiz. Heute lebt sie in Zollikofen BE und trainiert hauptsächlich in Bern. Nau.ch hat kurz vor ihrer Heim-WM mit ihr gesprochen.
Nau.ch: In wenigen Tagen beginnt die WM in Bern. Wie fühlen Sie sich?
Amruta Wyssmann: Ich freue mich sehr! Aber gerade der letzte Monat ist auch mit Stress verbunden. Ich trainiere derzeit sehr intensiv.
Nau.ch: Was ist Ihr Ziel für die WM?
Wyssmann: Ganz klar – den Final zu erreichen. Aber in meiner Kategorie ist das Feld aktuell sehr stark. Bei 14 Anmeldungen gibt es nur vier oder sechs Plätze für den Final.
Nau.ch: Sind Sie deswegen nervös? Wie gehen Sie damit um, Ihre Freunde und Familie im Publikum zu sehen?
Wyssmann: Es könnte schlimmer sein. Dieses Jahr war ich auch an den Weltcups weniger nervös als im Jahr zuvor. Es ist sicher auch ein Vorteil, zu Hause in einer gewohnten Umgebung schlafen zu können. An den Faktor Heim-Publikum will ich gar nicht denken.
Nau.ch: Sie gelten im Schweizer Para-Klettersport als Pionierin. Wie kam es dazu?
Wyssmann: Bis 2021 gab es kein Schweizer Para-Kletterteam. Im Mai 2021 wurde ich von der Organisation Plus Sport angefragt, ob ich kompetitiv klettern möchte. Bis im Oktober war ich alleine im Team, dann ist das Ganze richtig explodiert. Heute sind wir 16 Athleten und Athletinnen.
Nau.ch: Wieso hat es so lange gedauert, bis Paraklettern in der Schweiz diese Aufmerksamkeit bekommen hat?
Wyssmann: Leider fehlt die Offenheit. Beim Thema Behindertensport denkt man meist an Rollstuhlsport. Dass auch Klettern möglich ist, wissen viele nicht. Auch erst mit Hinblick auf die WM hat man gemerkt, dass das Gastgeberland ein Para-Team haben sollte.
Nau.ch: Sie sind sehr aktiv in den sozialen Medien. Geht es dabei auch darum, mehr Aufmerksamkeit für den Sport zu generieren?
Wyssmann: Eigentlich mache ich das alles nicht so gerne – es ist auch anstrengend, so viel zu posten. Es ist aber schön, die Leute zu überzeugen, dass etwas möglich ist. Das ist mir sehr wichtig. Ich hatte nie solche Vorbilder, als ich jünger war. Ich möchte Eltern zeigen können, was für ihr Kind mit Beeinträchtigung alles geht.
Nach der WM hoffe ich, dass Breitensportangebote richtig Gas geben bei der Inklusion. Und dass der Sport mehr Fördergelder bekommt. Es bringt nichts, ein Team zu haben, wenn man keine Finanzierung bekommt. Auch dafür ist die WM eine grosse Chance.
Nau.ch: Wie sind Sie ohne solche Vorbilder zum Klettern gekommen? Wussten Sie, dass Paraklettern existiert?
Wyssmann: Eine Kollegin, die schon lange klettert, hat mich mitgeschleppt. Nur kurze Zeit später war ich plötzlich dreimal pro Woche in der Kletterhalle. Dass Paraklettern existiert und es Wettkämpfe gibt – davon hatte ich keine Ahnung. Aber es hat sofort extrem Spass gemacht, vor allem auch der soziale Aspekt.
Nau.ch: Was macht für Sie den Klettersport aus?
Wyssmann: Man braucht den ganzen Körper, vor allem die Beine. Und es gehört viel Taktik und Strategie dazu. Das Routenstudium ist sehr wichtig für mich: Wenn dir nichts fehlt, greifst du einfach hoch – ich muss mir jede Bewegung im Voraus überlegen und die Route aus jedem Winkel anschauen. Deshalb fragen meine Kollegen inzwischen mich nach Ideen, wenn sie irgendwo nicht wissen, wie weiter.
Nau.ch: Klettern ist also Kopfsache?
Wyssmann: Ja, auf jeden Fall! Ich würde sagen, etwa 80 Prozent ist im Kopf. Auch das ganze Mindset ist wichtig. Mit meinem Trainer arbeite ich daran, alles immer positiv zu formulieren – sogar, wenn mir eine Route nicht gefällt. Wenn man im Kopf nicht da ist, kann man es meist von Anfang an vergessen.
Nau.ch: Hat diese Einstellung einen Einfluss auf andere Bereiche Ihres Lebens?
Wyssmann: Mein Leben besteht nur aus Klettern (lacht). Nein, im Ernst: Ich war schon vorher sehr aufgestellt und positiv. Aber es hat mir sicher gezeigt, was ich alles schaffen kann, wenn ich will.